: Der Deal mit den „Ungläubigen“ ist längst perfekt
■ Necmettin Erbakan (69) ist kein Radikaler, sondern ein ausgefuchster Opportunist
Der Traum des Necmettin Erbakan (69) hat sich erfüllt. Endlich wird er als Ministerpräsident die Geschicke der Türkei leiten, wenn auch in einer Koalition mit Exministerpräsidentin Tansu Çiller. Droht mit Erbakan im Nahen Osten ein zweites Iran? Wird der Maschinenbauprofessor, der in den fünfziger Jahren in Aachen promovierte, einen theokratischen Staat errichten? Wohl kaum. Seine Wohlfahrtspartei stellt zwar mit 158 Abgeordneten die stärkste Fraktion in der 550köpfigen türkischen Nationalversammlung. Aber die 21,4 Prozent der Stimmen, die Erbakan bei den vergangenen Wahlen erhielt, reichen für eine absolute Mehrheit bei weitem nicht aus. Außerdem ist Erbakan kein Revoluzzer, kein Chef einer umstürzlerischen Organisation wie damals Ajatollah Chomeini.
Die Wohlfahrtspartei ist eine durch und durch heterogene Volkspartei. Bereits Ende der sechziger Jahren war Erbakan mit seiner Partei der nationalen Ordnung aktiv. In den siebziger Jahren koalierte seine Nationale Heilspartei sowohl mit dem Sozialdemokraten Bülent Ecevit, als auch mit dem Konservativen Süleyman Demirel, dem jetzigen Staatspräsidenten. Nur in Zeiten, wo Putschisten die Türkei regierten, wurden Erbakan und seine Anhänger gänzlich aus dem politischen Leben verbannt. Trotz Regierungsbeteiligung in den siebziger Jahren wurden die Anhänger Erbakans von dem herrschenden Regime und den Militärs stets als Aussätzige behandelt. Als eine gefährliche Bewegung, die den laizistischen Staat des Republikgründers Mustafa Kemal (Atatürk) aus den Angeln zu heben drohte.
Die Regeln des Opportunismus beherrscht Necmettin Erbakan in Perfektion. Die europäische Zollunion, die er vor den Wahlen als „Knechtschaft unter dem Diktat von Ungläubigen“ verurteilte, wird er brav weiterführen. „Wir werden die islamische Nato“ gründen, prahlte Erbakan einst. Heute will er sich offenkundig mit der bestehenden Nato begnügen: „Wir werden der Nato von innen her behilflich sein, eine neue Identität zu finden.“ Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus dürfe die Nato nicht den Islam als neues Feindbild ausmachen. Auch Kredite des Internationalen Währungsfonds sind für seine Regierung kein Tabu. Mit dem Zinsverbot nimmt man es heute ohnehin nicht so ernst.
Erfolgreich hat sich Erbakan als „Systemalternative“ zu den bürgerlichen Parteien präsentiert, die er als „Knechte“ des Währungsfonds denunzierte. Doch entgegen seiner Propaganda ist der Deal Erbakans mit den Kapitalisten und den Militärs längst perfekt. Mehr und mehr ist seine Wohlfahrtspartei selbst zu einer Systempartei geworden. Die größte Chance auf dem Weg zur Integration ist nun die Ministerpräsidentschaft Erbakans.
Gerade weil die Wohlfahrtspartei kein religiös motivierter, sozialrevolutionärer Bund, sondern eine Partei des politischen Pragmatismus ist, waren die Koalitionsverhandlungen leichtes Spiel für Erbakan. Nun wird er mit Exministerpräsidentin Tansu Çiller, die er einst als „Ungläubigenbraut“ und „Feindin der Religion“ beschimpfte, die Macht teilen. Um Kurdistan kümmern sich ohnehin die Generäle.
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