: Bewegte Sittenbilder aus diesem Jahrhundert
In Dresden ging das 16tägige „Theater der Welt“-Festival zu Ende – mit einem erfreulich gutgelaunten Schlußprogramm und der achtstündigen Gesamtfassung von Robert Lepages „Die sieben Ströme des Flusses Ota“ aus Quebec ■ Von Petra Kohse
Wer dem „Theater der Welt in Dresden“ zehn Tage fernbleiben mußte, wird gleich angenehm überrascht: Der Holzverschlag, der das Festivalzentrum am Königsufer heimwerkerhaft dominierte, hat seinen Inhalt freigegeben – ein schönes, altes Tanzzelt, in dem die HolländerInnen Marianne Van der Straay und Marielle Tromp als „Lebende Musikbox“ nachts konzeptionell plüschig Schlager singen.
Auch sonst haben sich gute Laune und Selbstbewußtsein breitgemacht. Ein paar Schritte weiter tönt nachmittags ein original spanisches Automatentheater fröhlich folkloristisch gegen die Popbeschallung der Versorgungshütte an und zeigt gegen drei Mark Eintritt bewegte Sittenbilder aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Es ist das letzte seiner Art, das noch im Einsatz ist.
Traditionsbewußt gibt sich auch eine chilenische Produktion im Hauptprogramm. Der ehemalige Mnouchkine-Schauspieler Andrés Pérez Araya, der auch das Gran Circo Teatro gründete, hat mit dem Teatro Sombrero Verde ein Stück von Roberto Parra inszeniert: „Die Rache“. Der Titel erinnert ungut an die „Orestie“-Adaption der italienischen Socìetas Raffaello Sanzio, die zwei Wochen zuvor zu sehen war, und in der es darum ging, daß der Mensch schon vergessene Blutschuld ohnmächtig immer weiter sühnen muß (siehe taz vom 21. 6.).
Doch nichts davon im Theater Junge Generation, wo man in der Pause von der Terrasse aus eine Schafherde an der Elbe beobachten kann. Zwar wird hier ebenfalls gemordet, aber immerhin mit Anlaß und aus Leidenschaft. Die Waise Anita wird Dienstmädchen im Hause Don Pablos, der sie schwängert und aus dem Haus wirft. Leider liebt Anita dieses Ekel, so daß sie die nächste Gelegenheit ergreift, sich verkleidet erneut in sein Bett zu legen, um sich zu „rächen“. Es gibt natürlich verwickelte Nebenhandlungen, und am Ende ist Anita wieder schwanger und Don Pablo tot.
Auf einer Einheitsbühne mit viel Sand und Holz und Hausgerät zeigt Araya virtuos entfesseltes und zugleich beherrschtes Volkstheater. Musik- und geräuschuntermalt spielen sieben Darsteller ein komplettes Komödienlandleben. Das saust nur so über die Bühne, wechselt die Rollen und fliegt durch die Luft. Ein Papierbündel wird als Huhn gejagt und landet im Suppentopf, was aussieht wie rostige Kleiderstangen, ist ein Hengst, und bereits Verstorbene sind immer mittenmang.
Eine rasante Burleske, die zuweilen poetisch aufgerissen wird, wenn Anita etwa beim „ersten Mal“ von den Ahnen in den Himmel geschaukelt wird oder einer in Raserei unwillkürlich mit den Absätzen zu klackern beginnt, weil ein paar Takte Flamenco herüberwehen. Ein selbst in den traurigen Szenen noch kraftvoller Abend über List, Lust und Last einer unverheirateten Mutter. Folklore als Stilmittel, als Kunstform.
Nicht als Schandfleck, sondern als Hoffnungsträger spielt ein uneheliches Kind auch in „Die sieben Ströme des Flusses Ota“ eine wichtige Rolle. Und so erinnert diese Produktion von Robert Lepage mit der Gruppe Ex Machina aus Quebec auch nicht an die Moral von gestern, sondern an die von morgen. Sieben Teile in acht Stunden mit vier Pausen. Theater, so lang wie ein Arbeitstag. Manches daraus hat der Frankokanadier Lepage bereits gezeigt (etwa in Braunschweig; siehe taz vom 16. 6. 1995). Im Staatsschauspiel Dresden war das Projekt erstmals zusammenhängend zu sehen.
Es geht um Hiroshima und um Theresienstadt, um Aids und Zen, um Züge, Flugzeuge und Kameras, um Zerstörung, Angst und Tod. Und dabei doch immer um Leben
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und Überleben, um die Möglichkeit eines Danach.
Ein US-amerikanischer Armeefotograf kommt 1945 nach Hiroshima, um die Zerstörung der Gebäude zu dokumentieren. Eine Frau bittet ihn, ihr zerstörtes Gesicht aufzunehmen. Er ist abgestoßen und angezogen zugleich. Sie läßt sich von ihm ein Kind machen und nennt es nach dem ersten Sohn des Fotografen: Jeffrey. Zeitsprung. Die folgenden Teile handeln davon, wie der Hiroshima- Jeffrey den New-York-Jeffrey sucht und findet, wie letzterer an Aids erkrankt und Ada, eine holländische Freundin heiratet, um in Amsterdam an einem ärztlich begleiteten Selbstmordprogramm teilnehmen zu dürfen.
Ada ist die Tochter einer Jüdin, die sich in Theresienstadt das Leben genommen hat. Die Künstlerin Jana hatte das als Kind miterlebt, jetzt interessiert sie sich für Zen-Buddhismus. Alle treffen sich irgendwann im Haus des Hiroshima-Jeffrey und seiner blinden Frau Hanako. Weitere Paare und Frauen kreuzen den Weg, alle – mehr oder weniger bewußt – auf der Suche nach sich selbst. Am Ende, 1997, wirft Hanako die Asche ihres Mannes in den Fluß Ota – an der Stelle, wo er sich in sieben Ströme teilt.
Mit dieser gemeinschaftlich erarbeiteten Geschichte träumt Lepage den Traum von der Überwindung der Gegensätze und einer Entwicklung zur Freiheit. Er träumt ihn auch ästhetisch. Die Front eines japanischen Gartenhauses wird zur Projektionsfläche für Filmeinblendungen, zum Spiegelkabinett, zum Guckkasten, zur Puppenbühne. Die Stile mischen sich von Ost nach West und zurück. Schattenspiel in Hiroshima, filmischer Realismus in New York, magischer Realismus, Montageszenen mit Projektionen, Ritual und Kammerspiel.
Auf der Suche nach einem Aphrodisiakum wurde das Schießpulver erfunden, erzählt eine Puppenszene. Später liegt ein Menschenpaar heringsartig im Puppenbett, ein Männerkopf quillt aus der kaiserlichen Puppensänfte. Philosophische Sätze etwa über die Unübersetzbarkeit mancher Worte und witzige Konversationspassagen wechseln sich ab. Panorama und Puzzle, rhythmisiert und mit Musik und Geräuschen unterlegt. Gesprochen wird englisch, französisch, japanisch und deutsch.
Manches ist zu lang. Anderes zu kurz. Japanisierende Szenen werden andächtig gefeiert, da erstarrt das Geschehen zum Genrebild. Auch sind nicht alle Schauspieler immerzu glänzend. Die meisten aber doch. Im Laufe der Stunden vergißt man gelegentlich, wo alles eigentlich hinzielt. Das stört zuweilen, dann wieder nicht. Man lacht, und man heult. Nach sechs Stunden noch wünscht man, es möge nie aufhören. Nach der siebten wäre man bereit, selbst wieder ein bißchen am Leben teilzunehmen. Und weiß doch nach der achten: Nichts anderes hat man getan.
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