Eine zweite Vertreibung droht

■ Die bosnischen Flüchtlinge in Deutschland leben in der Angst, ab 1. Oktober zwangsweise abgeschoben zu werden

Frankfurt/Main (taz) – „Dem Trauma von Vertreibung und Flucht darf keinesfalls das Trauma einer überhasteten Rückkehr unter Zwang hinzugefügt werden.“ Esther Gebhardt, Vorstandsvorsitzende des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt (ERV), wandte sich gestern gegen eine zwangsweise Rückführung der Flüchtlinge aus Bosnien. Gemeinsam mit bosnischen Flüchtlingen kritisierte sie die Absicht von Bund und Ländern, ab dem 1. Oktober mit der Abschiebung zu beginnen.

Bundesinnenminister Manfred Kanther hatte bislang lediglich ausgeschlossen, daß Flüchtlinge vor dem 30. September zwangsweise abgeschoben werden, die weitere Entscheidung aber den Ländern überlassen. Schleswig- Holstein und Nordrhein-Westfalen haben inzwischen eine Duldung über den 30. September hinaus in Aussicht gestellt. Bayern und Hamburg haben dagegen erkennen lassen, daß sie ab dem 1. Oktober mit der zwangsweisen Rückführung beginnen wollen. Andere Länder behalten sich vor, die bosnischen Wahlen Mitte September abzuwarten.

Eine „zweite Vertreibung in nur wenigen Jahren“, so eine betroffene Muslimin, sei unverantwortlich. Dies meinte auch Carlos Westerwick, Sozialarbeiter des EVR. In der bosnisch-kroatischen Föderation und vor allem in der serbischen Republik sei das gesamte Rechtssystem zusammengebrochen, die örtlichen Behörden verweigerten der jeweils anderen ethnischen Minderheit die Wiederansiedlung. In ihre eigentlichen Heimatorte könnten deshalb die wenigsten Flüchtlinge zurück, sagte Westerwick. „Nicht wenige Flüchtlinge und auch Experten befürchten, daß bei einem Abzug der Ifor- Truppen im November der Krieg wieder ausbricht.“ Westerwick stützt sich bei seinen Ausführungen auf einen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Mai dieses Jahres. Nach diesem Bericht, sagt der Flüchtlingsberater, könne er jedem geflohenen Bosnier „mit Aussicht auf Erfolg“ raten, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen.

Ohnehin müsse bei den in Deutschland lebenden Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina im Hinblick auf ihre Rückkehr differenziert werden, forderte Esther Gebhard. Flüchtlinge aus den berüchtigten Internierungslagern, Opfer brutaler ethnischer Vertreibungen, vergewaltigte Frauen, Kranke oder Deserteure sind ohnehin von der „geordneten Rückführung“ ausgenommen.

Ermina (30) hat das „Schnupperangebot“ der Bundesregierung angenommen und sich sechs Tage lang in ihrer einstigen Heimatstadt Sanski Most im Nordosten Bosniens umgesehen. Das Haus, in dem sie mit ihrer Familie sieben Monate lang Granatwerfer- und Tieffliegerangriffe der Serben überlebt hat und aus dem die Familie erst kurz vor der Eroberung der Stadt durch die Serben fliehen konnte, ist heute ein rußschwarzes Gebäude mit leeren Fensterhöhlen: „Fast sieht es aus, als ob das Haus weinen würde.“

Ermina hatte in Sanski Most „Sehnsucht nach Frankfurt“. Und sie möchte die nächsten Jahre noch in Frankfurt bleiben: „Ich habe schon den Wunsch, eines Tages nach Bosnien zurückzugehen. Aber es ist noch zu früh. Wir haben Angst. Deutschland hat uns geholfen, und ich bin dankbar dafür. Aber laßt uns bitte noch eine Weile bleiben.“

Auch Maria aus Sarajewo hat „panische Angst“ davor, demnächst abgeschoben zu werden. Die Muslimin ist mit einem Serben verheiratet. „Was ist unser Staat? Die Föderation? Die serbische Republik?“ Sie brauche Zeit für eine Entscheidung – mehr Zeit als ihr Kanther offenbar lassen will. Klaus-Peter Klingelschmitt