Um deutsche Unternehmen konkurrenzfähig zu machen, fordert der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminster Wolfgang Clement Korrekturen bis weit in das Kartellrecht. Zugleich warnt er vor einem Verlassen der konsensuellen Wirtschaftspolitik

taz: Herr Clement, beim Programmparteitag 1989 in Berlin hat ihre Partei mit großer Mehrheit erklärt, „daß Reparaturen am Kapitalismus nicht genügen...“

Wolfgang Clement: Die Welt hat sich seit 1989 grundlegend verändert. Die nationalstaatlichen Möglichkeiten zur Steuerung der Wirtschaftspolitik nehmen beinahe von Tag zu Tag ab. Darauf gibt es bisher weder eine theoretische noch eine praktische Antwort. Auch unser Wirtschaftsprogramm bedarf hier einer Überarbeitung. Wir müssen in der Wirtschaftspolitik dafür sorgen, daß unsere Unternehmen, die die Kraft haben, mit den großen Unternehmen aus Japan, den USA oder aus Südkorea zu konkurrieren, dies auch tun dürfen. Wir brauchen eine strategische Innovationspolitik auch für die Branchen, die unser industrielles Rückgrat bilden, zum Beispiel den Maschinenbau, die Elektroindustrie, die chemische und die Stahlindustrie. Das erfordert massive Korrekturen, die bis weit ins Kartell- oder – ein spezieller Fall – ins Medienrecht hineinreichen. Gleichzeitig müssen wir Sozialdemokraten uns den kleineren und mittleren Unternehmen, die den größten Teil der Ausbildungs- und Arbeitsplätze stellen und auf vielen Feldern Träger der Innovationen sind, zuwenden und deren Rahmenbedingungen grundlegend verbessern. Diese Doppelstrategie muß unsere Antwort auf die Globalisierung der Märkte sein. Darüber hinaus besteht unsere Hauptaufgabe heute darin – und das war 1989 schlicht nicht erkennbar –, dafür zu sorgen, daß im Zuge dieser Globalisierung die Werte, die wir im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft entwickelt haben, jetzt nicht verloren gehen. Dazu zählen die sozialen und ökologischen Standards gleichermaßen.

Der Chef der Bundesvereinigung der Industrie, Hans-Olaf Henkel, will von Sozialpartnerschaft nicht mehr viel wissen: „Schluß mit der Konsenssoße“, sagt Henkel. Der Preis sei in Deutschland dafür „zu hoch, wir kriegen sie auch billiger“. Wäre es für die SPD jetzt nicht an der Zeit, ihren Schmusekurs gegenüber dem Kapital aufzugeben?

Herr Henkel kann nur deshalb so reden, wie er redet, weil es genügend andere in dieser Gesellschaft gibt, die ihren Teil dazu beitragen, daß wir noch eine konsensuelle Gesellschaft sind. Ob man das so weitertreiben kann, wie es Herr Henkel tut, weiß ich nicht. Ich jedenfalls glaube, daß die gesellschaftliche Situation in unserem Lande bis zum Zerreißen gespannt ist. Vor Überdehnungen kann ich nur warnen. Ich bin nicht bereit, von der konsensuellen Wirtschaftspolitik abzurücken, denn auf anderem Wege gibt es keine akzeptablen Problemlösungen.

Aber wenn der oberste BDI- Boß nicht mehr mitspielen will, ist das Modell doch erledigt. Sie wollen bis zum Jahr 2000 die Arbeitslosigkeit halbieren. Im Verein mit Unternehmern wie Henkel?

Im Verein mit Unternehmen, Gewerkschaften und Verbänden. Da erlebe ich eine völlig andere Wirklichkeit als die der Bonner Sprüche. Das, was Herr Henkel und auch andere formulieren, halte ich für äußerst kurzsichtig. Es kann nicht gutgehen, wenn sich unternehmerische Verbandsspitzen oder Unternehmensführungen herauslösen aus gesellschaftlichen Bindungen. Man kann nicht alles das, was die Gesellschaft in der Bundesrepublik an Sicherheit und öffentlichen Leistungen zur Verfügung stellt, für sich persönlich und für sein Unternehmen in Anspruch nehmen und sich gleichzeitig seiner Verantwortung für den allgemeinen Wohlstand im eigenen Land entziehen. Unternehmensleitungen, die nichts anderes als den shareholder-value im Sinn haben, werden scheitern. Ich kenne viele Unternehmer, die sehr genau wissen, daß man auch im Interesse seines eigenen Unternehmens und des gesellschaftlichen Nutzens längerfristige Pflichten, zum Beispiel in der Berufsausbildung, auf sich nehmen muß, wenn man auch künftig eine hohe Produktivität und Qualität haben will. Auch dann, wenn sie sich aktuell nicht sofort positiv in der Bilanz auswirken.

Ihr langjähriger Fraktionsvorsitzender im Düsseldorfer Landtag, Friedhelm Farthmann, sieht die SPD wegen ihrer „inhaltlichen Zerrissenheit“ am „Abgrund“. Da hat sich seit der Ablösung von Rudolf Scharping durch Oskar Lafontaine kaum was verändert. Lafontaine sagt, der Standort Deutschland sei „einer der besten der Welt“. In Deutschland werde unter dem Stichwort „Standortdebatte“ eine „Irrlehre“ verbreitet. Gibt es gar keine Standortkonkurrenz?

Oskar Lafontaine fordert mit allem Nachdruck dazu auf, endlich eine international abgestimmte Finanz-, Währungs- und Wirtschaftspolitik zu betreiben. Das halte auch ich für absolut notwendig. Lafontaine hat auch recht, wenn er davor warnt, daß der international gängige Abbau von Sozialstandards, als Antwort auf die Globalisierung, uns in einer Spirale nach unten ziehen würde. Das heißt aber doch nicht, daß wir am Standort Deutschland oder NRW nicht unter den gegenwärtigen Bedingungen um jeden Arbeitsplatz und die entsprechenden Rahmenbedingungen ringen müßten. Als Landeswirtschaftsminister habe ich natürlich mit den Standortbedingungen hier bei uns zu tun. Dazu gehört auch, daß ich auf eine Senkung der Lohnnebenkosten dringen muß. Da gibt es gar keinen Widerspruch zu Lafontaine.

Lafontaine sagt, stagnierende Löhne seien falsch, wir brauchen mehr Nachfrage. Haben Sie schon einmal einen Unternehmer getroffen, der Lafontaine zustimmt?

Ich glaube, daß Oskar Lafontaine mit den jetzt gefundenen moderaten Tarifabschlüssen völlig einverstanden ist. Das ist im Moment die richtige Antwort, denn wir müssen in der gegenwärtigen Situation die Kosten in den Griff bekommen. Auf Dauer sind stagnierende oder sogar rückläufige Reallöhne aber natürlich ein Problem.

Das SPD-Präsidium hat jetzt ein Konzept zur Ökosteuer vorgelegt, das vorsieht, die Prozeßenergie, also die im Produktionsprozeß eingesetzte Energie, von der Besteuerung auszunehmen. Anke Fuchs, ihre Finanz- und Wirtschaftsexpertin im Bundestag, hält den Präsidiumsbeschluß „für falsch“.

Zunächst einmal gilt es festzuhalten, daß es außerordentlich problematisch ist, allein auf nationaler Ebene eine Öko- oder Energiesteuer einzuführen. Wir brauchen eine Verständigung zumindest in Europa über die Grundregeln der direkten und indirekten Besteuerung. Weil die noch nicht da ist, kommen wir gar nicht umhin, die Prozeßenergie von einer solchen Steuer bei uns auszunehmen. In der ersten Runde – und darauf läuft der Vorschlag des SPD-Präsidiums ja hinaus – kann eine Energiesteuer nur den privaten Verbrauch erfassen. Das ist zwar nicht ideal, aber angesichts der Standortprobleme nicht anders möglich. Alles andere würde Arbeitsplätze gefährden – und zwar sehr viele.

Wenn Sie auf eine Verständigung in Europa warten wollen, warten Sie ewig.

Die Währungsunion ist der Anfang eines europäischen Bundesstaates, und dieser Prozeß kann nur funktionieren, wenn die beteiligten Staaten ihre Politik auf den wichtigsten Feldern harmonisieren. Daß man da nur sehr langsam vorankommt, weiß ich, aber die Zeit drängt. Die Linke in Deutschland muß sich übrigens auch von der Vorstellung lösen, alles sei von Staats wegen besser zu machen. Vieles läßt sich über vernünftige freiwillige Vereinbarungen mit der Industrie, die natürlich kontrollierbar sein müssen, besser regeln als mit dem traditionellen Ordnungsrecht. Wir haben doch bei uns ein undurchschaubares Regelungsdickicht. Man muß nur in die kleinen Unternehmen gehen und sich erklären lassen, was ein Unternehmer heute alles an Gesetzen, Regeln und Erlassen zu beachten hat. In jeder Versammlung, die ich besuche, steht ein Handwerker auf und hält mir das Gewerbe-, Umwelt- oder Gesundheitsrecht vor. Unternehmen ohne eigene Rechtsabteilung können das kaum noch bewältigen.

Heißt das, daß Ihnen die Selbstverpflichtung zum Klimaschutz zwischen der Bundesregierung und der Wirtschaft jetzt reicht?

Nein! Das ist im Prinzip der richtige Weg, aber im Konkreten reicht die Verpflichtung nicht aus, weil damit die von Kohl versprochene Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes nicht erreicht werden kann. Dazu paßt auch, daß mit der Automobilindustrie jetzt vereinbart worden ist, die Einführung des Fünfliterautos vom Jahr 2005 auf das Jahr 2010 zu verschieben. Solche Antworten, die beliebig veränderbar erscheinen, schaden der Glaubwürdigkeit des Instruments der freiwilligen Selbstverpflichtung. Die SPD würde das anders machen.

Bei der SPD weiß niemand, was sie will. Beispiel PVC: Die Bonner SPD-Fraktion fordert in einem Antrag, „daß in Versammlungsstätten und in Gebäuden mit hohem Publikumsverkehr künftig keine PVC-Ummantelungen mehr verwendet werden dürfen“. Dem grünen Bauminister Vesper, der per Erlaß eine Empfehlung in diese Richtung abgegeben hat, sind sie mit „aller Schärfe in die Parade gefahren“. Haben Sie gegen ihre Bonner Genossen ebenso forsch protestiert?

Nein! Der Erlaß suggeriert, PVC sei für den Verlauf der schrecklichen Brandkatastrophe am Düsseldorfer Flughafen verantwortlich. Ich möchte verhindern, daß vor der staatsanwaltschaftlichen Feststellung über die tatsächlichen Ursachen Urteile auf Verdacht gefällt werden. Was die Bonner SPD-Fraktion anbetrifft, so kann ich nur darauf verweisen, daß sie – anders als wir – noch nicht in der Regierungsverantwortung steht. Ansonsten kann ich nur dringend bitten, die Vor- und Nachteile jedes Werkstoffs äußerst sorgfältig zu prüfen – so wie es übrigens die Enquête-Kommission des Bundestages getan hat. Ich jedenfalls bin zu Stigmatisierungen und Verboten solange nicht bereit, wie ein Sicherheitsrisiko nicht zu erkennen ist. Ich denke nicht daran, ohne Not Zehntausende von Arbeitsplätzen aufs Spiel zu setzen.

Warum verteidigen Sie so vehement PVC? Risikoärmere Produkte wie Kabelummantelungen ohne PVC schaffen ebenso viele Arbeitsplätze. Warum reagieren Sie so gereizt?

Weil ich unsere Mediengesellschaft kenne. Es müssen nur die richtigen Stichworte fallen und schon entwickeln sich mediale und politische Reflexe, die ganze Industriezweige auf einen Streich gefährden können. Und deshalb halte ich dagegen.

Es gibt den Verdacht, daß noch andere Motive Sie angetrieben haben könnten. Ihr Parteigenosse Farthmann hat gesagt, sein Nachfolger Klaus Matthiesen agiere unmittelbar am Bruchpunkt der Koalition. Und das tue der SPD gut. War das nicht der eigentliche Grund für ihre scharfe Attacke?

Nein, damit hat das absolut nichts zu tun. Wenn ein sozialdemokratischer Minister diesen Erlaß herausgegeben hätte, wäre meine Reaktion um keinen Deut anders ausgefallen.

Aber Matthiesens Politik hat Farthmann richtig beschrieben?

Klaus Matthiesen sorgt dafür, daß in der Koalition das Profil der SPD nicht Schaden nimmt. Das ist ihm und anderen bisher gut gelungen.

Ein Jahr währt das Bündnis nun in Düsseldorf. Wie viele Jahre werden folgen?

Wir haben uns auf fünf Jahre verständigt. Ich glaube, daß wir inzwischen ganz produktive Arbeit leisten. Aber natürlich ist das alles noch nicht so gut, daß es nicht noch besser werden könnte.

Interview: Walter Jakobs