Alles Lüge und aus Liebe

■ Berufungsverhandlung in Sachen Lütfü G. bis Mitte des Monats unterbrochen; Geschädigte ist derzeit nicht aufzufinden

Deniz D. ist 16 Jahre alt und geht seit sieben Monaten zur Schule – im Untersuchungsgefängnis Stuttgart-Stammheim, wo er wegen „Anschuldigungen, die nicht wahr sind. Irgendwas mit Drogen“ sitzt. Vor seiner Verhaftung im November lebte er in einem Hotel in Hamburg St. Georg. Kurze Zeit hat er sein Zimmer dort mit Lütfü G. geteilt. Der ist 25 Jahre alt und wegen Drogenhandels und versuchten schweren Menschenhandels zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden (taz berichtete am Dienstag). In dessen Berufungsverhandlung sagt Deniz D. als Zeuge aus.

Als Zeugin vorgeführt werden sollte – da freiwillig nicht erschienen – am zweiten Verhandlungstag Sonja S. Die aber war nicht aufzufinden. Der Angeklagte soll ihr im September vergangenen Jahres zunächst Heroin verkauft und später ein Messer an den Hals gesetzt haben, um sie zum Anschaffen zu zwingen. Lütfü G. aber gibt an, sie geliebt und ihr ausschließlich Hilfe angeboten zu haben. Und das Messer, das die Polizei nach seiner Festnahme bei ihm fand, habe Deniz D. gehört – wie auch die Jacke, in der das Messer steckte.

Der junge Zeuge bestätigt, daß Lütfü G. häufig und „unter Tränen“ Sonja S. beschworen habe, mit den Drogen aufzuhören. Die Jacke will auch er sich ausgeliehen haben. Das Messer aber sei seins gewesen, eines von zweien, die er besitzt – das mit blaugrünem Plastikgriff. Die beschlagnahmte Waffe, die die Richterin aus einem Umschlag zieht, ist ein Butterfly-Messer ganz aus Metall. Ob der Zeuge mal vorführen könne, wie man damit umgeht, will sie wissen. Die Neugier der Wachleute hingegen hält sich in Grenzen: sie raten eindringlich ab von einem solchen Experiment.

Experimentierfreudiger als bisher wird sich das Gericht anscheinend aber zeigen müssen, wenn es Sonja S. doch noch als Zeugin vernehmen will. Mitte des Monats soll es gelingen, dann erst wird die Verhandlung fortgesetzt. Bis dahin wird sich der Verteidiger weiterhin darüber wundern dürfen, „wieviel Interesse das Opfer an einer Strafverfolgung des Angeklagten hat“. Wohlweislich thematisiert er nicht, daß sein Mandant ja bereits strafverfolgt, nämlich verurteilt wurde.

Ein anderer Ausgang des Berufungsverfahrens ist derzeit wenig wahrscheinlich. Die weiblich besetzte Strafkammer reagierte bislang auf die tränenrührenden Beteuerungen des Angeklagten und des Zeugen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihre Mundwinkel allerdings hat zumindest eine der Schöffinnen von Zeit zu Zeit weniger gut unter Kontrolle. Stefanie Winter