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Jäger und Sammler

Teil 1: Eine kleine Einführung in das Sozialverhalten der Ethnie „Hanse-Politiker“  ■ Von Silke Mertins Neue taz-Serie: Die Stammesriten der Bürgerschaft

In den Reiseberichten des 18. Jahrhunderts werden sie als eine Art Geheimbund beschrieben, der sich in einer aus Stein errichteten Palaverhütte mit Namen Rathaus trifft und dort nach komplizierten Ritualen Sprechtheater aufführt. Frühe Missionare, die zum Zwecke der Bekehrung zu den Hanse-Politikern (Fremdbezeichnung) geschickt wurden, vermuteten damals gar, daß es sich um eine religiöse Sekte handeln würde. Sie beklagten außerdem, daß es ihnen nicht gelungen sei, das Vertrauen dieser Gruppe zu gewinnen; bei narrativen Interviews machten die Bürgerschaftsabgeordneten (Eigenbezeichnung) oft absichtlich falsche und widersprüchliche Angaben.

Ethnologisch betrachtet, gehören die Stammesriten der Bürgerschaft zu den interessantesten und eigentümlichsten Formen kulturellen Lebens in der Freien und Hansestadt Hamburg. Um so erstaunlicher, daß diese kleine, elitäre Ethnie und ihr Ringen um die Beibehaltung kultureller Identität in der ethnologischen Gegenwartsliteratur bisher kaum beschrieben wurde.

Inzwischen ist diese Ethnie, wir wollen sie im folgenden Bürgerschaftler nennen, wesentlich zutraulicher geworden. Neue Forschungsergebnisse widerlegen zudem einen religiösen Zusammenhalt. Fest steht heute, daß die Bürgerschaftler eine keineswegs gefährliche, wenn auch geltungsbedürftige Gruppe von Menschen ist, die mindestens 25 Mal im Jahr eine Stammesvollversammlung einberuft und sich ansonsten in Kleingruppen trifft.

Unbestritten ist, daß sie zu den Jägern und Sammlern gehören. Die Jäger heißen bei den Bürgerschaftlern Oppositionelle, die Sammler Regierungspartei und Senat. Anders als bei anderen Ethnien sind hier jedoch die Jäger weniger angesehen als die Sammler. Das mag daran liegen, daß die Jagd in der Freien und Hansestadt Hamburg bisher relativ erfolglos blieb.

Die älteste für die Jagd zuständige Gruppe mit Namen CDU versucht den Sammlern – der SPD – schon seit 30 Jahren vergeblich die Vorherrschaft abzujagen. Die Jungjäger, die GAL, waren erst einmal nah an der Beute: Vor drei Jahren wären sie beinahe in die Gruppe der Sammler aufgenommen worden, versagten dann jedoch bei den Koalitionsverhandlungen genannten Initiationsriten.

Die Sammler erfreuen sich hingegen eines hohen sozialen Ansehens, das nicht selten von ausgeprägtem Sozialneid begleitet wird. Und sie sammeln alles: Plus- und Minuspunkte, Wählerstimmen, Sinn und Unsinn, Anfragen, Drucksachen, Statussymbole, Dienstwagen.

Während diese Gruppe von Jägern und Sammlern auf ein umfängliches Repertoire an Körpersprache, Sprachkodex und ritualisierter Kommunikation zurückgreifen kann, sind die Gastlichkeit und der Austausch mit den um sie herum lebenden Bevölkerungsgruppen nur sehr rudimentär entwickelt. Experten sprechen hier zuweilen besorgt von verkümmerten Interaktionsfähigkeiten, die bis zur Feindlichkeit gegenüber Gruppenfremden reichen können.

Zusammenfassend haben wir es hier mit einer exotischen und zuweilen schwer zugänglichen Ethnie mit ausgeprägter Geheimbund-Mentalität zu tun. Ihr archa-isch anmutender Häuptlingskult, die Ahnenverehrung und besonders auch das ungewöhnliche Geschlechterverhältnis stoßen aber auf zunehmendes ethnologisches Interesse.

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Sonnabend in Folge 2:

Stamm, Sippe, Clan

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