: Erhabenes für Seelenforscher
■ Ein bulgarischer Chor mit tuvischen Obertonsängern
Skythisches Gold, thrakische Schilde, Skelette aus Dschingis Khans Massakern – Fundstücke vergangener Epochen beschäftigen die Phantasie von Museumsbesuchern und Magazinlesern, aber vermitteln sie uns tatsächlich etwas von untergegangenen Kulturen? Sind derartige Reliquien des historischen Sensationsgeschmacks nicht vielmehr ohne ausführliche Erklärungen leere Zeichen eines großen Kulturmischmaschs?
Überlieferte Musik entwickelt da einen anderen Charakter, auch oder gerade weil sie immer angereichert ist mit Einflüssen unterschiedlicher Kulturen, dabei aber trotzdem eine hohe Eigenständigkeit bewahrt. Der Gesang der bulgarischen Frauen, der in den letzten Jahren als Ethno-Schlager-Artikel die Kontinente rauf und runter gereicht wurde, ist trotz dieser Vermarktung ein positives Beispiel dafür, wie die Bewahrung lokaler Traditionen eine historische Tiefe vermitteln kann, die jene Lebendigkeit und Assoziationsbreite entwickelt, die Fundstücke niemals haben werden. In diesem Fall schützen die beiden fürchterlichen Etikette „Folklore“ und „Ethnomusik“ einen Bereich der Menschheitsgeschichte vor dem Verschwinden im internationalen Kulturglobus, der nur noch Oberflächlichkeit ist.
Daß diese Gesangstechnik, die man nie wieder vergißt, wenn man sie einmal gehört hat, durchaus in einen spannenden Verkehr mit anderen traditionellen Musiken treten kann, ohne ihre Charakteristik dafür zu opfern, beweist das Projekt von Mikhail Alperin, mit dem er heute abend in Hamburg auftreten wird. Der ukrainische Jazzkomponist hat den bulgarischen Frauenchor Angelite in Kontakt mit dem Oberton-Ensemble Huun-Huur-Tu aus dem südsibirischen Tuva gebracht und damit eine Koexistenz von Musik geschaffen, die glücklicher kaum sein könnte. Die jubilierende und dennoch melancholische Vortragsweise des Frauenchors und das knarrende, in monotoner Modulation seine Magie entfaltende Obertonsingen von Huun-Huur-Tu, die von Frank Zappa bis zum Kronos Quartett schon mit vielen experimentierfreudigen Musikern zusammengearbeitet haben, fügen sich ineinander, als seien sie füreinander geschaffen.
Alperin, der für dieses Konzept traditionelle Stücke neu arrangierte, aber auch Eigenkompositionen entwickelte, hat auf der CD Fly, Fly My Sadness diese Verschlingung noch sparsam instrumentiert und Ahnungen von seiner eigenen musikalischen Tradition untergebracht: meditativer Jazz, Klezmer und russische Volksmusik. Der russische Bläser Sergey Starostin fügt diese Versatzstücke behutsam in den Dialog der Stimmen; mehr als Ahnungen sind es wirklich nicht.
Das Resultat ist auf eine angenehme Art erhaben, denn es läßt viel Raum für freie Forschung.
Till Briegleb
Heute abend, 21 Uhr, Fabrik
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