: „Evakuierung ist unmöglich“
Bei AKW-Unfall gibt es nicht mal eine Notversorgung, weil Pharmakonzern die vorgesehenen Jod-Tabletten nicht liefern kann ■ Von Heike Haarhoff
Risse in Rohrleitungen des Atomkraftwerks Krümmel, kein Schutz vor Erdbeben und Flugzeugabstürzen im Pannenreaktor Brunsbüttel, plutoniumhaltige MOX-Brennelemente im Atommeiler Brokdorf und potentiell brüchiger Stahl im Schrottreaktor Stade: Es sind reale Gefahren, auf die Wissenschaftler und Atomkraft-Gegner ihre Forderung stützen, den atomaren Ring rund um Hamburg abzuschalten.
Denn ein effizienter Katastrophenschutz für die Hamburger Bevölkerung nach einem nuklearen Unfall existiert nicht. Die Innenbehörde brilliert: „Evakuierung ist unmöglich.“ Die 78 Schutzbunker seien auf längere Aufenthalte versorgungstechnisch nicht vorbereitet. Und bei den speziellen Jodtabletten, die laut „Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz“ bei Reaktorunfällen an die Bevölkerung auszugeben sind, herrscht seit dem Frühjahr ein „Lieferengpaß“: Die Pillen, die die Schilddrüse gegen radioaktives Jod blockieren, sind nach Angaben des Darmstädter Pharma-Herstellers Merck „frühestens im August wieder erhältlich“.
„Unverantwortlich“ findet das Atom-Experte und Brokdorf-Kläger Karsten Hinrichsen: „Wenn jetzt ein Reaktor in die Luft fliegt, ist nicht mal die Notversorgung gewährleistet.“ Die Hamburger Behörden widersprechen: 21.000 Jodtabletten will Hans Harten von der Katastrophenabwehr-Abteilung in Bergedorf im Keller des Bezirksamts gestapelt haben. Von „Engpässen“ könne keine Rede sein. Im „Alarmkalender“ steht, wer im Ernstfall in den Genuß der begehrten Pillen kommt: ausschließlich Personen, die in einem Radius von zwei (Nahzone) bzw. zehn Kilometern (Mittelzone) um ein Akw leben.
In Krümmels Nachbarbezirk Bergedorf sind das rund 2.000 Menschen. Jeder von ihnen würde von den Katastrophenschützern zehn Tabletten frei Haus geliefert bekommen. Diese Medizin bietet den „Mittelzonis“ 64 Stunden „Schutz“. Den restlichen 1,7 Millionen HamburgerInnen bleibt die Hoffnung, daß sich die radioaktive Wolke an der Zehn-Kilometer-Grenze gehorsamst verflüchtigt. Die EinwohnerInnen der Gemeinden rund um die Akws Brokdorf und Brunsbüttel hingegen müssen es sich selbst besorgen: Unter der radioaktiven Wolke sollen sie zu den Bürgermeister-Ämtern spazieren, wo die begehrten Tabletten lagern. Die Bevorratung in privaten Haushalten sei „nicht vorgesehen“, teilt der Landrat des Kreises Steinburg mit. „Dort würden die Pillen vielleicht verkramt“, hat Hans Harten Verständnis.
Die 1988 von Bund und Ländern verabschiedeten „Rahmenempfehlungen“ sehen außerhalb einer 25-Kilometer-Zone „keinerlei Maßnahmen“ vor. „Eine Evakuierung macht nur Sinn, wenn man das Ereignis noch vor sich hat“, weiß Wolfgang Brandt, Katastrophenschutz-Leiter bei der Innenbehörde. Wohin auch sollte eine Großstadt schon fliehen? „Wenn hier eine Atombombe einen Volltreffer landet, schützt sowieso kein Bunker.“ Die Bunker unter dem Polizeipräsidium, den U-Bahn-Schächten und anderswo böten ohnehin keinen langfristigen Unterschlupf.
Daher empfiehlt die Innenbehörde: Im Ernstfall getrost zu Hause bleiben und die Fenster schließen. Und sich die weise Erkenntnis eines erprobten Katastrophenschützers zu Herzen zu nehmen: „Man braucht eben auch Glück.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen