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Unfallchronik

Ab 1970: Im Chemiewerk Icmesa in Meda bei Seveso, nördlich von Mailand, wird Trichlorphenol hergestellt – Ausgangsstoff für Pestizide und Desinfektionsmittel.

Samstag, 10. Juli 1976: Bis zum Schichtende ist die Reaktion im Kessel nicht beendet. Die Produktionscharge wird sich selbst überlassen, ohne weitere Prozesse durch Kühlung zu unterbinden. Die Reaktion endet mit einer Verpfuffung. Eine Wolke aus Natriumhydroxid, Trichlorphenol und Ethylglycol und mehreren Kilogramm 2, 3, 7, 8-Tetrachlordibenzo-p-dioxin (TCDD) legt sich über Teile von Meda und Seveso.

Die Menge an TCDD, die tatsächlich freigesetzt wurde, ist unbekannt. Schätzungen schwanken zwischen einigen hundert Gramm und Dutzenden von Kilogramm.

Einen Tag später: Die Bewohner von Meda werden bei einem Rundgang von einem Polizisten und dem Bürgermeister gewarnt, Früchte oder Gemüse aus dem Garten zu essen und auch nur zu berühren. Die Bewohner von Seveso werden nicht informiert, da kein Polizist zur Begleitung des Bürgermeisters zur Verfügung steht.

3 Tage später: Die ersten Kaninchen verenden, Anwohner kommen mit Verätzungen ins Krankenhaus.

11 Tage später: wird bekannt, daß „relativ hohe“ Mengen an Dioxin in der Umgebung gefunden wurden.

15 Tage später: Die Evakuierung der unmittelbaren Umgebung wird vorbereitet, das Gebiet eingezäunt.

20 Tage später: Das kontaminierte Gebiet wird in Zonen eingeteilt, in Zone A mit dem höchsten Kontaminierungsgrad liegt die Dioxinkonzentration über 50 Mikrogramm pro Quadratmeter.

Zwei bis vier Monate später: Die ersten Fälle von Chlorakne treten auf.

Vier Jahre später Eine Sondermülldeponie in der Zone A wird genehmigt. 85.000 Kubikmeter verseuchter Boden und Bauschutt werden hier gelagert.

September 1982, die Fässer: 41 Fässer mit dem hochgiftigen Reaktorinhalt werden aus Seveso abtransportiert.

Frühjahr 1983: Die 41 Fässer sind verschwunden. Im Mai tauchen sie im nordfranzösischen Dorf Anguilcout-le- Sart in einem alten Schlachthof auf.

1985: Bei Ciba-Geigy in Basel werden 41 Fässer mit dioxinhaltigem Inhalt verbrannt. Die Gerüchte halten sich hartnäckig, daß der Sondermüll doch woanders sei, besonders in Schönberg in der damaligen DDR.

Heute: Die Langzeitstudien über die Wirkung von Dioxin sind nicht abgeschlossen. Zahlreiche Entschädigungsverfahren sind noch offen. Der „Park der Eichen“, die Zone A mit den Giftdeponien, wird geöffnet. Die italienische Staatsanwaltschaft ermittelt seit zwei Monaten wegen des „begründeten Verdachts“, daß die Fässer in Norditalien vergraben sind. Jutta Sapotnik

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