piwik no script img

„Wir haben nichts gelernt“

Die Sondermülldeponie von Seveso wird heute zum Park  ■ Von Jutta Sapotnik

Ende Juni 1996 erinnert in Seveso auf den ersten Blick nichts mehr an den Alptraum. Kinder spielen auf den Straßen, Frauen kaufen ein, Männer sitzen im Straßencafé. „Mit der richtigen Dosis Dioxin wird man prima 78 Jahre alt“, sagt ein rüstiger alter Mann stolz. Damals vor 20 Jahren ist der Dorfpolizist ein paar Tage nach dem Knall bei der Icmesa von Haus zu Haus gelaufen und hat gesagt, es sei irgendwas passiert, sie sollten von draußen nichts essen und am besten auch nichts anfassen, erzählt der Mann. Das sei doch alles nur Panikmache gewesen, er habe alles aus dem Garten gegessen und seine Kinder natürlich auch. Nein, Angst habe er nie gehabt, und eine Entschädigung habe er auch bekommen. Wieviel, verrät er nicht.

Verläßt man die Innenstadt von Seveso, stößt man schnell auf einen Zaun. Kein Schild, keine Tafel erklärt, was sich dahinter verbirgt. Eine Grünfläche mit jungen Bäumen, kleinen Seen und Gebüsch ist hinter dem Zaun, und mitten im Gelände ragt die höchste Erhebung der Gegend heraus. Das ist die Sondermülldeponie, in der der verseuchte Boden, die belastete Vegetation und der Schutt der abgerissenen Gebäude vergraben wurden. Die Fabrik der Icmesa und alle Gebäude in der am stärksten betroffenen Zone A wurden abgerissen, der Boden abgetragen und das Gelände bepflanzt und eingezäunt. Der „Park der Eichen“ ist aus der Sondermülldeponie geworden. Der 43 Hektar große Park wird heute zum 20. Jahrestag des Seveso-Unglücks eröffnet.

Es ist Gras über die Sache gewachsen. Doch noch immer sind nicht alle Betroffenen entschädigt. Zwar haben sich die meisten außergerichtlich mit dem Schweizer Chemiemulti Hoffmann-La Roche, Mutterkonzern der Icmesa, geeinigt, aber 26 zivile Verfahren sind noch in Rom anhängig. Die Kläger fordern von La Roche entweder höhere Summen oder, überhaupt entschädigt zu werden. Insgesamt hat Hoffmann-La Roche rund 300 Millionen Schweizer Franken gezahlt. Der Löwenanteil ging für Sanierungsarbeiten und Zahlungen an die Region Lombardei und an die Gemeinden drauf.

In Seveso läuft seit der Katastrophe eine der weltweit größten medizinischen Untersuchungen. Wissenschaftler untersuchen seit 20 Jahren die über 5.000 Betroffenen. Dabei sind bis heute viele Fragen offen. Unmittelbar nach dem Unfall traten bei ungefähr 450 Menschen Hautverätzungen und vom September bis zum darauffolgenden Frühjahr bei rund 180 Menschen Chlorakne auf. Wieviel Dioxin sie damals aufgenommen haben, wissen die ExpertInnen erst seit Ende der 80er Jahre. Vorher konnte Dioxin im Blut nicht gemessen werden. Nach dem Unfall wurden im Krankenhaus des benachbarten Desio 30.000 Blutproben eingefroren, die seit acht Jahren nach und nach untersucht werden: Der Dioxingehalt im Blut der Menschen von Seveso war vor 20 Jahren 3.000mal so hoch wie im europäischen Durchschnitt.

Die ExpertInnen wissen daher, daß Dioxin auf Menschen akut unterschiedlich wirkt. Manche hochbelastete Einwohner bekamen Chlorakne, andere nicht. Die stark juckenden Pusteln sind heute meist verheilt. Die Langzeitfolgen des Supergiftes Dioxin sind dagegen offen. 20 Jahre sind zu kurz, um sichere Aussagen über Krebserkrankungen zu machen. Die bisherigen Ergebnisse der Studien zeigen einen erhöhten Anteil von Tumoren in Weichteilen und Lymphknoten. Weitere Vermutungen weisen darauf hin, daß Dioxin die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigt und erbgutverändernd ist. „In den Familien wird nicht darüber gesprochen. Viele haben Angst, daß ihre Kinder einmal fragen: ,Warum sind wir hier nicht weggezogen?‘“, sagt Gabriele Gabati von der Umweltbewegung „Lega per l'Ambiente“. Sie hatte vorgeschlagen, das Areal der Mülldeponie, als Mahnmal eingezäunt, sich selbst zu überlassen. „Aus Seveso haben wir wenig gelernt“, sagt auch Alberto Frazzei, Präsident des World Wide Fund for Nature in der Lombardei. „Wir fordern heute noch das gleiche wie vor 20 Jahren: mehr Information über die chemische Industrie, mehr Prävention gegen Störfälle, mehr Beteiligung der Bevölkerung.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen