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Flotte Kugel

■ Kammerspiele: „Die Wüste lebt!“ beim Schlagerkegeln mit Zwerchfell-Beben

„Kegeln ist die Quelle wahrer Glückseligkeit!“ Von Charakteren, die derartigen Parolen in ritueller Begeisterung verfallen sind, darf wohl vermutet werden, daß sie sich in einem Zustand geistiger Orientierungslosigkeit befinden. Kegelfreunde oder die Suche nach dem Ich, ein „Schlager-Theater-Abend“ der Hamburger Regisseurin Sandra Strunz, liefert die Probe aufs Exempel. Die streckenweise musicalartige Inszenierung sorgte am Mittwoch abend in den Hamburger Kammerspielen beim Nachwuchs-Festival Die Wüste lebt! für erhöhtes Zwerchfell-Beben.

Vier offensichtlich schwer debile Personen erwarten auf der als Kegelbahn-Aufenthaltsraum dekorierten Bühne in gesteigertem Erregungszustand und geschmückt mit kegelförmigen Halsketten das Eintreffen ihres neuen „Kegelführers“. Bevor dieser in Erscheinung tritt, offenbaren sich dem Publikum die Charaktermißstände des degenerierten Kegel-Verbunds. Ramona giert nach Negerküssen, die der verklemmte Bernhard verwaltet, Geli sprüht mit einem Pflanzenbestäuber wahllos in der Gegend herum beziehungsweise in die Gesichter ihrer Mitkegler und Elke stöhnt „Ich habe Vaginalmuskelkater!“.

Alexandre, der neue Kegelführer, kann den vor Unterwürfigkeitslust wimmernden, kegelfanatischen Haufen anschließend problemlos unter Kontrolle nehmen. Zuhältermäßig, im weißen Anzug mit Goldkettchen, spielt der Macho seine Autorität gnadenlos aus und unterzieht seine Untertanen bösartiger Erniedrigungen – was diese ihm danken.

Begleitet werden die grotesk-komischen Szenen von einer Vielzahl Schlager, deren Original-Texte im Zusammenspiel mit der Handlung neue, spaßige Sinnhorizonte eröffnen. So wird dem idolisierten Kegelführer „I Wanna Be Loved By You“ entgegengebracht, für Gemeinheiten bedanken sich die Kegelfreunde mit „Please Do It Again“. Nachdem Alexandre aber in einem sentimentalen Moment über seine Vergangenheit sinniert, in welcher er als „Alexandre, der singende Kunstschütze“ umherzog und sich unglücklich verliebte, also durchaus menschliche Züge an den Tag legt, beginnen die Machtverhältnisse zu kippen. Symptomatisch erklingt die Schnulze „Ein Diamant verbrennt, genau wie ein empfindsamer Mensch“. Schließlich bereiten die konvertierten Kegler ihrem Führer ein jähes Ende. Sein Abschieds-Song: Heintjes „Mama“.

Auch wenn der Lachreiz naturgemäß im Verlauf des Stückes sank und die Umkehr des Kegelclub-Kollektivcharakters von devot zu dominant noch hintergründiger und eindringlicher hätte ausgeführt werden können – gelohnt haben sich die Einblicke in die groteske Welt des Kegelns auf jeden Fall. Allein schon aufgrund von Kegelweisheiten wie „Scharfer Kegel, flotte Kugel – zack, zack!“.

Christian Schuldt

Nochmal heute, 20 Uhr

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