: Niederknien und meditieren
■ Wirkliche Harmonie gibt es nur in der Mechanik – so auch bei der Kettenpflege, der wir uns regelmäßig widmen sollten
Es werden schließlich hohe Anforderungen an den Kettenstrang mit seinen knapp 120 Gliedern gestellt. Allenfalls darf er leise surren, und dem vom Schaltwerk vorgegebenen Weg zum größeren oder kleineren Ritzel soll er willig und geschmeidig folgen. Wenn er aber nach einigen Wochen oder Monaten durch eine gewisse Trägheit auffällig wird, sich beim Gangwechsel sträubt, gar beim Pedalieren mit permanent zirpenden Geräuschen die Ohren nicht nur musikalischer Menschen beleidigt – dann will die Harmonie wiederhergestellt sein. Die Kette will Öl. 120 Tropfen dickflüssigen Öles oder dünnflüssigen Fetts sind jetzt angezeigt. Mehr ist überflüssig.
So geht's: Das Fahrrad so anlehnen, daß die Kurbeln nach hinten frei drehen können, die Kette ist uns zugewandt. Eine Zeitung oder Pappe unterlegen, das Kettenöl in einem Fläschchen mit Tülle zur Hand nehmen und je einen Tropfen von oben auf die Rollen der Kette auftragen. Ein meditativer Vorgang. Hat das Öl eine Minute eingewirkt, drehen wir die Kette in Freilaufrichtung und lassen sie durch einen sauberen, möglichst fusselfreien Woll- oder Baumwollappen gleiten. Das äußerlich an der Kette haftende Öl wird so wieder entfernt und wir beugen damit vor, daß es sich mit Staub und Sand zu einer grausigen Schmirgelpaste verbindet. Die vornehmste Aufgabe dieser unheilvollen Melange wäre es, Kette und Zahnkränze in kurzer Zeit zu verschleißen.
Ein Mehraufwand an Reinigung bringt der Kette nichts, hätte eher eine arbeitstherapeutische Funktion. Dem Staub, der unter die Rollen gekrochen ist, läßt sich weder durch Auskochen in fettlösenden Bädern noch mit Preßluft beikommen. Wer allerdings auf die Kette Silikonöl aufsprüht, erzielt damit eine wasser- und staubabweisende Wirkung.
Übrigens: Mehr als 5.000 Kilometer hält keine Kette durch. Nicht etwa weil sie dann reißt, nein, das nicht. Aber durch den Abrieb an Bolzen, Laschen und Rollen vergrößert sich der Abstand zwischen den Kettengliedern: Unsere Kette greift nicht mehr perfekt ins Profil der Zahnkränze. Je nach Güte, Gewicht des Fahrers, Übersetzung, Kettenlinie und Witterung wird nach 1.000 bis 5.000 Kilometern das Ende des zulässigen Verschleißbereichs eingeläutet. Eine regelmäßige und sachgerechte Pflege wird im Normalfall das Aus in den oberen Bereichen verschieben. Doch dann müssen Kette und Ritzelpaket des Hinterrades gemeinsam ausgetauscht werden. Und das kostet 50 Mark und mehr. Also: Kniet nieder und nehmt euch der Kette an. Sie wird's euch danken. Stephan Pochert
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