: 350 kg Frauen und Bänke
■ "Möge die Übung gelingen!" bittet die Trainerin, und alles gelingt. "Begnadete Körper", Andre Hellers Show chinesischer Artistik, hat heute Premiere in Berlin
Unermüdlich fährt Großmeister Wang Guan Ming mit seinem Einrad auf dem winzigen Podest hin und her. Ein Assistent reicht ihm fünf chinesische Porzellanschüsseln. Wang Guan Ming stapelt sie gelassen auf seinem rechten Schienbein bis zum Knie, kickt einmal mit der Fußspitze: Leise klirrend landen die Schüsseln nacheinander auf dem Kopf des Radlers. Die 1.600 Zuschauer im vollbesetzten Zelt auf der Münchner Theresienwiese toben vor Begeisterung. Wenn die chinesischen Artisten ihre Künste zeigen, gerät sogar der unsinnige Name der Show in Vergessenheit: „André Hellers begnadete Körper“.
Vor elf Jahren trommelte der Wiener Hansdampf zum erstenmal chinesische Artisten für seine berühmteste Produktion zusammen. Das jetzt neu aufgelegte Programm soll zwei Jahre lang durch Europa touren, nach München macht es in Berlin Station, die Premiere ist heute abend.
Fünf Schlangenmädchen winden und verknoten ihre Glieder, als hätten sie Kautschuk im Leibe. „Tellervirtuosinnen“ schlagen muntere Purzelbäume, während sie gleichzeitig auf acht strohhalmdünnen Stäben Porzellanteller rotieren lassen. Und eine Akrobatin trägt auf ihren Beinen eine Konstruktion aus zierlichen Bänken und Frauen, die insgesamt 350 Kilo wiegt. Keine Frage: Diese Körper sind wirklich begnadet. Die schier unglaubliche Kraft und Gelenkigkeit der Akrobaten macht einige Zuschauer ziemlich nervös. „Da merkt man erst, wie steif man selber ist“, stöhnt eine mittelalte Besucherin, die in der Chinapfannen- Pausenschlange stand: „Morgen melde ich mich für einen Tai-Chi- Kurs an!“
Die 38 Artisten sind nicht nur von Natur aus extrem gelenkig, sie haben auch von frühester Jugend an ständig trainiert. Alle gehören zu einer 200 Mann starken Artistentruppe aus Kunming im Südosten Chinas. Das jüngste Mitglied ist das vierzehnjährige Schlangenmädchen Len Lu Lu, ein fast unheimlich zerbrechliches, 32 Kilogramm leichtes Geschöpf mit alterslos hübschem Gesicht. Mit drei Jahren machte sie die ersten gymnastischen Übungen, mit sechs kam sie auf eine der berühmten Akrobatikschulen, weit fort von zu Hause.
Nach der Show knabbert Len Lu Lu ein paar Frühlingsrollen und lächelt die Dolmetscherin verlegen an: Ja, die Truppe sei wie eine Familie für sie. Die Akrobaten verstehen sich als Kollektiv, jeder Künstler macht bei mehreren Nummern mit. Len Lu Lu zum Beispiel ist auch bei der Trapeznummer dabei: Saltoschlagend stürzt sie im freien Fall (zum Glück angeseilt) von hoch oben herab, wird von einem Artisten auf der Schaukel aufgefangen und schwingt geschmeidig durch das Zelt. In München hatten die Künstler nur eine Vorstellung pro Tag, in Berlin werden es zwei sein. Die Tour de force endet erst in einem halben Jahr; dann kommt Ersatz aus der Heimat.
In China genießen die Artisten sehr hohes Ansehen. Ihre „hundert Künste“, die auch das chinesische Theater stark beeinflußten, haben eine ehrwürdige, zweitausend Jahre alte Tradition. Das Programm schwelgt denn auch in altmodisch behäbigen Begriffen: Als „wirkliche Kopfarbeiter der 17. Stufe aus der Stadt Kunming“ werden die beiden Männer bezeichnet, die sich nur mit Köpfen und Nacken schwere Porzellanvasen zuwerfen, und sogenannte „Himmelskletterer“ bilden schwerkraftverachtende Menschenpyramiden.
Die einzige komische Nummer, „heitere Tänze und Zeremonien der Glückslöwen“, steht in der Tradition des „Chiao Ti“, der Simulation von Tierbewegungen. Die Darsteller stecken zu zweit in grellbunten Monsterkostümen und hopsen wie Zirkuslöwen auf Podeste. Einem Löwen steckt der Dompteur den Kopf ins Plastikmaul.
Wenn die grandiosen artistischen Leistungen nicht von jeder Menge Brimborium begleitet wären, wäre dies keine André-Heller- Show. An einem Stand werden herzförmige Glücksbringer aus Plastik und andere Chinoiserien feilgeboten. Die Trainerin, die durchs Programm führt, fleht vor jeder neuen Nummer andächtig: „Möge die Übung gelingen!“, und irgendwann skandieren alle Zuschauer den frommen Wunsch mit.
Bei den Kostümen hat sich Heller von der Pekingoper inspirieren lassen und dabei auf dem Grat zwischen Kitsch und Kunst oft die Balance verloren. In den Aufbaupausen wandeln Nummerngirls in Phantasietrachten durch die Manege, mal mit einem spiralförmigen Metallkegel, mal mit beleuchteten Lampions auf dem Kopf. Die Musik will exotisch sein, und doch klingt alles stark nach Zirkusmarsch und Polka, nur eben auf chinesischen Instrumenten gespielt. Den Bewegungen der Artisten aber passen sich die Musiker genau an. Am Ende der perfekten Show haben die staunenden Zuschauer noch etwas zu lachen: Die Trainerin bittet sie höflich „um Nachsicht für unsere Fehlerhaftigkeit“. Miriam Hoffmeyer
Bis 11. 8. Täglich außer montags jeweils 16 und 20 Uhr im Zelt am Lützowplatz
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