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Suche nach dem verlorenen Exzeß

■ Junk-Lust im Zeitgeist 96: Die nächste Generation steht bereit, um mit Vergnügen die Fehler der Alten zu wiederholen

Lou Reed hatte es irgendwie noch einfacher, ein Held zu sein. „Ich habe eine wichtige Entscheidung getroffen: Ich werde versuchen, mein Leben zu annullieren“, schrieb er 1964 in seinem Drogenklassiker „Heroin“ – und stand damit quasi automatisch im samtenen Untergrund, wo damals prachtvoll die Blumen des Bösen gediehen.

Die Gründe für den gemeinen Rockstar von heute, Heroin zu nehmen, sind meist banalere: Tourstreß kompensieren, Superstardasein wegstecken, mit dem inneren Würstchen fertig werden, das abends im Hotelzimmer zum Vorschein kommt. Es ist mehr eine Frage des Overground. Und der Pragmatik. „Heroin hieß Leben ohne ständige Sorge“, sagt beispielsweise Steven Tyler, Sänger von Aerosmith, der sich auf seine alten Tage zum Mahner der Weltjugend entwickelt hat.

Kurt Cobain, einer der wenigen Tragöden, die die Grunge-Generation hervorbrachte, soll sich umgebracht haben, um seiner Tochter den Anblick eines dahinsiechenden Junkies zu ersparen. Heißt es „aus seiner Umgebung“. Immerhin: Drogen im allgemeinen und Heroin im besonderen sind plötzlich wieder „ein Thema“. Der amerikanische Rolling Stone brachte in seiner Mai-Ausgabe ein Special „Heroin and Rock“ (mit der Frage „Who's next?“), unbescholtene Städte wie Dublin entpuppen sich mir nichts, dir nichts als Drogenmetropolen, und im August wird Danny Boyles „Trainspotting“- Film den Junkie auch hierzulande als Zeitgeistfigur rehabilitieren. Schon schreiben auch die Warner das Thema weiter herbei: Focus malt psychedelische Schauergemälde, und der Kommentator der Frankfurter Allgemeinen phantasiert auf der gestrigen Seite 1 von „Nächten konvulsivischer Zuckungen und wahrer Veitstänze“.

Da gibt die Angst der Lust unüberhörbar Zucker. Nicht umsonst hat Boyle seinen Film eine „Comedy-Horror-Show“ genannt: Der Junkie als Wiedergänger verlorener Exzesse sorgt für wohligen Thrill, sogar für einen Hauch Tragik in der öffentlichen Verhandlung dessen, was gesellschaftsfähig ist und was nicht.

Vieles spricht dafür, daß im Zeitgeist 96 die Junk-Lust überwiegt. An ihren Parfums sollt ihr sie erkennen! „Live To Excess“ wirbt beispielsweise Paco Rabanne für seine neueste Kreation „XS“ („for her“ und „for him“ erhältlich), und das meint ja im Grunde dasselbe, was Mark, der Held von „Trainspotting“, sich zur Philosophie gemacht hat: „Die Gesellschaft erfindet eine völlig verdrehte Scheinlogik, um die Leute, deren Verhalten außerhalb des Mainstream steht, zu absorbieren ... Entscheide dich für uns. Entscheide dich fürs Leben. Entscheide dich für Hypothekenraten, Waschmaschinen, Autos ... Also, ich habe mich entschieden, mich nicht fürs Leben zu entscheiden.“

Natürlich warnt an dieser Stelle der Gesundheitsminister: Achtung, junge Erwachsene! Die Einnahme von Drogen kann ernsthafte Schädigungen Ihrer Gesundheit zur Folge haben!

Doch die Klage, all das sei doch Irrsinn und sowieso schon mal dagewesen – damals, als Jim, Jimi und Janis ins Gras beißen mußten –, nützt nichts und ist sogar schädlich, denn Jungsein heißt immer, sich vom Alpdruck der Vorgängergenerationen befreien zu müssen. Deshalb ist Pop leider kein System, das im Laufe der Jahre allzuviel Wissen über sich selbst akkumuliert, im Gegenteil: Hat sich einmal etwas Sinn gesammelt, wird er auch schon energisch weggepunkt. Und während die Alten sich allmählich zu Auslaufmodellen entwickeln, steht schon die nächste Generation bereit, um mit viel Vergnügen die gleichen Fehler zu begehen.

Wahrscheinlich ist der sogenannte „Rock-Zirkus“ eben doch der legitime Erbe des Karnevals, der ja bekanntlich auch ganz ohne Fortschritt auskommt. Die Hamburger Band Tocotronic hat es auf den Slogan gebracht: „Jetzt geht wieder alles von vorne los“. Thomas Groß

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