Horst Seehofer schwänzt den Mathe-Unterricht

■ „Konzeptlosigkeit“ im Bundesgesundheitsministerium: Nach der Absage an die Gesundheitsförderung steht der Milliarden sparende Gesundheitssport vor dem Aus

Frankfurt/Main (taz) – „Vorbeugen ist besser als heilen.“ Heißt es. Bis zum Bundesgesundheitsminister ist es nicht gedrungen. Horst Seehofer (CSU) hat die erst seit 1989 bestehende Gesundheitsförderung nach Paragraph 20 des Sozialgesetzbuchs aus fadenscheinigen Kostengründen gekappt. Betroffen sind besonders die Sportvereine. Präventive Gesundheitssportangebote dürfen die Krankenkassen ab 1. Januar nicht mehr finanzieren. Der Gesundheitssport steht am Rande des Abstiegs.

Das im Bundestag durchgepaukte Beitragsentlastungsgesetz, das die Kassen angeblich von 7,5 Milliarden Mark Ausgaben befreien soll, dünnt den Leistungskatalog aus. Für die Gesundheitsförderung bedeutet dies, daß es gerade noch Schutzimpfungen und Krebsvorsorge geben darf. Seinen Kahlschlag begründet Seehofer mit Exzessen von Krankenkassen, die beim Buhlen um neue Kunden über die Marketingstränge schlugen. Doch die Zahl ist gering. Der zweite Grund: Eine Milliarde Mark wird vorerst gespart.

Seehofer dürfte des öfteren den Mathe-Unterricht geschwänzt haben. Wie Professor Klaus Bös, Sprecher der Kommission Gesundheit der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs), erklärt, belegen alle Modellrechnungen, daß die Kosten für Zivilisationskrankheiten mindestens zweistellige Milliardenbeträge erreichen. Gesundheitsförderung würde langfristig Kosten dämpfen. Mehr als 20 Prozent (60 Milliarden Mark) der jährlichen Kosten im Gesundheitswesen werden durch Bewegungsmangelkrankheiten verursacht. Was Seehofer ohne Gesundheitsförderung spart, wird nicht die Kostenspirale dämpfen, die primär durch Apparatemedizin, Krankenhaus- und Reha-Kosten verursacht wird. Auf die Gesundheitsförderung entfällt nicht einmal ein Prozent der jährlichen Ausgaben der Kassen.

Mit rationalem Verstand sei diese Sparmaßnahme nur schwer zu begreifen, sagt Bös. Die dvs sieht ihre Arbeit übergangen. Nicht Gesundheit im positiven Sinne, sondern Krankheit als Folge von Risikofaktoren wird von ihr definiert. Dabei wurde die psychische Gesundheit weitgehend ausgegrenzt. Bös sagt: „Die zentrale Frage lautet: Warum bleiben Menschen gesund? Und nicht: Welche Risikofaktoren machen krank?“ Sport, in Maßen, ist nach der neuen Denkweise ein idealer Schutzfaktor für die Gesundheit.

Den größten Zuwachs verzeichnen Vereinsangebote, die sich mit Fitneß und Gesundheit befassen; der Trend geht zur Gesundheit. Die dvs sieht nun die Verantwortung des Staats für die Volksgesundheit „ad absurdum geführt“. Verhindern konnten es weder dvs noch der Deutsche Sport-Bund (DSB). „Im Bundesgesundheitsministerium herrscht keine Strategie, sondern Konzeptlosigkeit“, erbost sich Dr. Sabine Wedekind, DSB-Referentin für Breitensport. Die Sportoberen haben zwar protestiert, ihr politischer Einfluß scheint aber gering. Ein eklatantes Mißverhältnis zwischen der wirtschaftlichen Bedeutung des Sports und seinem politischen Einfluß tut sich auf. Der Sport erzielt einen finanziellen Jahresumsatz, der dem der Mineralölindustrie entspricht; im Sport gibt es rund 700.000 Beschäftigte, soviel wie in der chemischen Industrie. Die führende Rolle im Zukunftsthema Sport und Gesundheit wurde indes nie hinreichend artikuliert.

Die Folge: Ein junger Markt könnte k.o. gehen. Rund zehn Prozent der Sportvereine haben sich in Kooperation mit den Kassen der Gesundheitsvorbeugung verschrieben. Angestellten Sportlehrern werden die Stühle weggezogen, bis zu 5.000 Arbeitsplätze sind laut dvs gefährdet. „Die Aufwendungen der Kassen für präventive Maßnahmen in den Sportvereinen stehen in keinem Verhältnis zu den Leistungen, die durch den Anstieg von Zivilisationskrankheiten in Folge von Bewegungsarmut entstehen“, sagt auch Jürgen Dieckert, Präsident des Deutschen Turner-Bundes, dessen Vereine am meisten betroffen sind. Seehofer, der mehr Eigenverantwortung verlangt, bestreitet nicht, „daß manche Dinge, die in Zukunft rausfallen sollen, unter gesundheitlichen Aspekten Sinn machen“.

Es dürfte zutreffen: In der Gesundheitspolitik bestimmt nicht das Versicherteninteresse, sondern das Wohlbefinden der klassischen Medizin, der Pharmaindustrie und der Apparatemedizin, dem teuersten Sektor im Gesundheitswesen. Die aber haben Einfluß und wollen Teile reparieren: An einem gesunden Breitensportler verdienen sie nichts. Oliver Kauer