: Hausarzt vom Aussterben bedroht
Beratung und gründliche Untersuchung können kaum mehr abgerechnet werden: Hausarzt Eberhard Lott hält 20 bis 25 Prozent der Berliner Praxen für gefährdet ■ Von Ute Scheub
Schein oder Nichtschein – das ist zur Überlebensfrage von HausärztInnen geworden. „Sollen wir gezwungen werden, möglichst viele Patienten mit möglichst vielen Krankenscheinen einzufangen – am besten mit dem Lasso?“ fragt mit grimmigem Humor der Hausarzt Eberhard Lott. Der Charlottenburger Allgemeinmediziner sieht über „20 bis 25 Prozent“ der Berliner Hausarztpraxen den Pleitegeier schweben. Grund: Die von vielen ÄrztInnen praktizierte Zuwendungsmedizin wird seit neustem so gut wie nicht mehr honoriert. Wer überleben will, muß ein Maximum an PatientInnen mit einem Minimum an Zeitaufwand durch die Praxis schleusen.
Die rigorose Sparpolitik im Gesundheitsbereich, die auf einen ausufernden medizinisch-technischen Markt traf, hat zu einem scharfen innerärztlichen Verteilungskampf geführt. Die Hauptschuld an der existenzbedrohenden Situation für HausärztInnen, erläutert der Arzt, trügen die Kassenärztlichen Vereinigungen von Bund und Ländern, die Ende Juni ohne jede Vorwarnung die Abrechnungsmöglichkeiten für typische Hausarzttätigkeiten zusammenkürzten. Rückwirkend zum 1. Januar können HausärztInnen nur noch bei jedem zweiten Patienten ein 15minütiges Gespräch und nur noch bei jedem 21. Patienten eine gründliche Untersuchung abrechnen. „Wer das ärztliche Ethos ernst nimmt und sich mehr Zeit nimmt, muß gratis arbeiten“, schimpft der sozial engagierte Mediziner, der zusammen mit seiner Frau eine Gemeinschaftspraxis betreibt. Auch er weiß nicht, ob er seine Patientenbetreuung mit bis zu 80 Hausbesuchen in der Woche aufrechterhalten kann.
Zu den HausärztInnen zählt Eberhard Lott nicht nur die praktischen ÄrztInnen und AllgemeinmedizinerInnen, sondern auch KinderärztInnen, GynäkologInnen und InternistInnen ohne nähere Fachbezeichnung, die intensivere Patientenbetreung inklusive Hausbesuche vornehmen. Ein Hausarzt ist seinem Verständnis nach auch der Koordinator und Lotse, der seine PatientInnen bei ihrer Odyssee durch verschiedene Facharztpraxen kompetent begleitet und überflüssige technische Leistungen und Kosten zu vermeiden weiß. Gedankt werde es ihm wenig, die bisherige Gesundheitspolitik bevorzugte die Fachärzte und die Apparatemedizin. Mit einer bundesweit beschlossenen Honoraränderung sollten deshalb Anfang 1996 die HausärztInnen gestärkt werden. „Das Verrückte ist“, sagt Lott, „daß sich das in sein Gegenteil verkehrt hat.“
Wie das? Die Kassenärztlichen Vereinigungen, die stellvertretend für alle niedergelassenen KassenärztInnen mit den Krankenkassen Honorarsätze vereinbaren, hatten ab Januar dieses Jahres eine höhere Vergütung für Gesprächsleistungen ausgehandelt. Folge eins: In den Monaten bis Juli rechneten auch die eher auf Apparatemedizin spezialisierten FachärztInnen unerwartet viele Patientengespräche ab – mehr als die HausärztInnen. Der vorgesehene Etat reichte nicht mehr aus. Folge zwei: Mit den Honoraränderungen vom Juni wurde die „sprechende Medizin“ begrenzt. Bislang wollen 450 von Eberhard Lotts KollegInnen rechtliche Maßnahmen gegen den rückwirkenden Charakter dieser Maßnahme ergreifen, ihre Chancen stehen nicht schlecht.
Hausarzt Lott warnt jedoch vor der Vereinfachung „guter Hausarzt – schlechter, geldgieriger Apparatemediziner“. In seinen Augen hat „die Ärzteschaft mit ihrem zynischen Verteilungskampf insgesamt versagt“. Immerhin sei die Kassenärztliche Vereinigung ein demokratisch gewähltes Gremium, wenngleich die Fachärzte dort ein Übergewicht hätten. „Die ärztlichen Vertreter dort haben bald die letzte Chance vertan, ihre Hausaufgaben zu machen. Wenn sie solche Situationen wie jetzt nicht voraussehen, zeigen sie, daß sie inkompetent sind“, findet er und zieht ein Rechenbeispiel aus der Tasche. Nach den neuen Regelungen verdient ein Hausarzt mit 650 PatientInnen nach Abzug aller Nebenkosten gerade mal 2.300 Mark netto im Monat. „Wenn er Kinder hat und eine große Wohnung bezahlen muß, ist er pleite.“
Was wäre die Alternative? Im Gespräch mit Ärztekammerpräsident Ellis Huber und anderen KollegInnen ist Hausarzt Lott schon manches Modell durchgegangen. Die Qualität ärztlicher Kunst und psychosozialer Zuwendung müsse belohnt werden, findet er, nicht die Quantität der Scheine und der Schein-Abrechnungen in all ihrer Doppeldeutigkeit. Weil aber die Gesundheitsbürokratie leider nur die Sprache der Betriebswirtschaft verstehe, schlägt Lott ein anderes System vor. Ein Hausarzt könne nicht mehr als 800 PatientInnen qualitativ gut versorgen. Um diese Qualität zu erhalten, sollte er bis zu einer Zahl von 800 Krankenscheinen existenzsichernd honoriert werden. Alle weiteren Scheine sollten geringer vergütet werden. Damit es eben nicht mehr heißt: Schein oder Nicht-Schein.
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