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Erkaufter Traum aus alten Steinen

Ob Geldwaschanlage für einen Tokio-Clan oder erlesenes Lustobjekt für Michael Jackson: Französische Schlösser und Burgen werden oft aus Geldnot verscherbelt. Auch Voltaires ChÛteau soll unter den Hammer kommen  ■ Von Reimar Oltmanns

Besucher strömen seit kurzem durch das Portal des Schlosses Ferney-Voltaire an der französisch- schweizerischen Grenze. Die Autostraße schlängelt sich durch den Jura, einer kleinbäuerlich geprägten Landschaft entlang der Alpenperipherie. „Noch einmal“, seufzt die 61jährige Winzerin Lucette Borell, „wollen wir in der Illusion ertrinken, einer längst verlorenen Zeit Frankreichs ganz nah zu sein. Wenn der ChÛteau-Ausverkauf der Republik so weitergeht, kann es bald schon zu spät sein.“

Acht Schlösser im Wert von insgesamt 189 Millionen Francs (etwa 63 Millionen Mark) sind über Nacht von einer in Tokio sitzenden Gesellschaft – Yokoi-Clan – erworben, ausgeräumt und schließlich der Verwahrlosung überlassen worden. Schlösser als Geldwaschanlage für internationale Schiebereien, illegale Transaktionen, Rauschgiftgeschäfte. Schlösser als Verschnaufquartiere russischer Mafiabosse, mitunter auch eines fundamentalistischen Emirs. Und ein erlesenes ChÛteau für den profitablen multimedialen Freizeitzirkus des amerikanischen Popstars Michael Jackson. Er darf sich seit jüngster Zeit Eigentümer des Schlosses Chabenet nennen. Einer Burg aus dem 15. Jahrhundert in der Ortschaft Pont-Chrétien im Département Indre – mit acht Türmen, 82 Räumen samt Fahrstuhl und Schwimmbecken; dazu einem Gelände von 17 Hektar für 12 Millionen Dollar.

Dabei gehören die 40.000 historischen Gemäuer zum Herzstück der großen touristischen Attraktionen der Republik, locken Jahr für Jahr Millionen Besucher aus aller Welt an – die romantisch verklärten Adelssitze, Schlösser und Schlößchen, Burgen und andere geschichtsträchtige Bauten.

So besichtigten im letzten Jahr über 850.000 Menschen die Perle der Loire-Schlösser, das ChÛteau de Chambord – von Versailles mit seinen 3,2 Millionen Besuchern ganz zu schweigen. Das Schloß Chambord, unter François I. im Jahr 1519 gebaut, ist mit 440 Räumen das größte Loire-Schloß und liegt im größten Park Europas.

In Frankreich sind mehr als 24.000 Bauten, Burgen und Schlösser zwischen dem 10. und dem 15. Jahrhundert befestigt worden. Nur eine zarte romantische Liebe, die etwa von einem Victor Hugo unnachahmlich gepflegt wurde, konnte sich freilich kaum gegenüber der mittelalterlichen religiösen Kunst behaupten. Mit der Folge, daß der Erhalt von Burgen und Schlössern im Gegensatz zu Kirchen oder auch Kathedralen sträflich vernachlässigt worden war. Allein 1.500 ChÛteaux hat der Staat nunmehr zum schützenswerten nationalen Erbe erklärt. Zwei Drittel davon, rund 1.000 Schlösser, sind in Privatbesitz.

Die meisten, die nun als Ruinen Landschaften schmücken, genießen kein besonderes Augenmerk. Lange Zeit haben die Behörden gezögert, sie unter Denkmalschutz zu stellen. Einfach aus Angst, enorme Renovierungskosten zahlen zu müssen. „Classé“, zum Denkmal klassifiziert, lautet das Prädikat, das die Gelder mindestens zu 50 Prozent fließen läßt. Wobei jede Baumaßnahme von einem staatlich beauftragten Architekten abgesegnet werden muß. Gebäude werden als „classés“ anerkannt, wenn „deren Aufrechterhaltung von öffentlichem Interesse ist hinsichtlich der Kunstgeschichte“ (Gesetz vom 31. Dezember 1913). Dann ist es möglich, immerhin 100 bis 50 Prozent der Renovierungs- und Unterhaltungskosten steuerlich abzusetzen. Vorausgesetzt, daß das ChÛteau für Publikumsvisiten zugänglich ist.

„Zu vermieten, auch an ordentliche Sekte!“

Indes: Wenn ein französisches Schloß aus dem 17. Jahrhundert für eine Monatsmiete von einem Franc (etwa 30 Pfennig) angeboten wird, so offenbart jene Offerte den Palais-Zustand der Nation.

Im südfranzösischen Dorf Pointis-Inard diente das dortige Schloß bis vor kurzem als Ferienpension. Allmählich verfällt es. Wie und wo Gelder für dringende Erhaltungsarbeiten (bis zu 1,63 Millionen Mark) aufzutreiben sind, weiß keiner. Bürgermeister Jean-Louis Puissegur kann partout keine kapitalkräftigen Schloßmieter finden. „Bald bin ich durch dieses ChÛteau-Problem so weichgekocht“, gesteht der Ortsvorsteher, „daß ich es auch an eine ordentliche Sekte vergeben würde. Hauptsache, vermieten. Das bringt Geld.“

Vertrieu, ein Dorf im französischen Bugey mit 120 Einwohnern, trägt den Namen seines Schlosses. Es gehört zu den villages mourants (sterbenden Gemeinden), dem schleichenden Verfall preisgegeben. Jedes Jahr verlassen nach Schulabschluß um die zehn Jugendliche den Ort. Die Landwirtschaft vermag sie nicht zu halten. Und der gewinnbringende Tourismus rast am Ort schnurstracks vorbei. Schloß Vertrieu scheint keine Reiseführersehenswürdigkeit zu sein, und auch ein schnell bewältigter Rundgang bringt keinerlei Aufschluß. Dafür ist es eine unbewohnte Ruine, irgendwie ein Dornröschenschloß geblieben. Eben ein Schloß, das seit neun Jahrhunderten Erbstück – Mitgift war. Frauen haben stets am Spieltisch eine besondere Rolle gespielt. Meist ist hier ihr „Nennwert“ wie auf einer Pferdeversteigerung ausgehandelt worden. Kein Wunder, daß nicht ein einziges Möbelstück jene wirren Zeitläufte unbeschadet überstand, das Gemäuer mittlerweile Risse zeitigt.

Was soll aus dem Schloß werden: Wohnsitz, Museum, restauriertes Denkmal in altersloser Vollkommenheit? Seit Jahren finden weder Eigentümer noch Behörden eine Antwort. Da hilft nur Madame Cantin – gebeugte Haltung, graue Löckchen, blaue Kittelschürze – aus dem Casino-Laden mit ihrem obligaten Sprüchlein weiter: „Ach, Dornröschen folgt den Körbchen und Fröschen!“ Wo ist der reiche Prinz, der das ChÛteau einfach heftig wachküßt? fragen sich alle Beteiligten.

Reicher Prinz soll Schloß wachküssen

Im Örtchen Ferney-Voltaire hat Bürgermeister Georges Vianès vor dem Schriftstellerdenkmal einen Fototermin mit Lokalreportern. „Wenn der Name Voltaire bei der Französischen Revolution nicht an das Wort Ferney angehängt worden wäre, hätte keiner gewußt, wer wir sind. Ob Sekten, Scheich oder Geldadel – unser Schloß wäre längst nach den Gesetzen des Marktes für mindestens 30 Millionen Francs (etwa 10 Millionen Mark) unter den Hammer gekommen. Die Republik verscherbelt vielerorts ihre Seele. Und viele merken es nicht einmal.“ Zwei Dutzend Städte im Osten Frankreichs kämpfen gemeinsam um die Rettung des Schlosses. Zur Zeit gehört das aus dem 18. Jahrhundert stammende Gebäude zwei über 80 Jahre alten Frauen, die das Anwesen abzugeben trachten. Sie sehen sich nicht in der Lage, das ChÛteau weiter zu erhalten. Aufflammende Erbstreitigkeiten unter ihren sieben Kindern und dreizehn Enkeln diktieren zudem Preise wie Verkaufsabsichten.

In diesem feudalen, geschichtsträchtigen Herrensitz mit Park und Privattheater lebte François Marie Arouet, der sich Voltaire nannte, von 1758 bis zum seinem Tod im Jahre 1778.

Mit seinen herben Versen gegen „Seelentyrannen“ und „Feinde des Menschengeschlechts“ verstand Voltaire es schon damals, die öffentliche Meinung zu mobilisieren und in Frankreich jenen streitbaren Liberalismus zu etablieren, der in Emile Zola, Anatole France, Romain Rolland und Jean-Paul Sartre würdige Nachfahren fand.

Im Schloß zu Ferney schrieb Voltaire seine meistgelesene Erzählung „Candide oder die beste Welt“ und zahlreiche andere Werke. Der Aufklärer Voltaire hatte es nicht zuletzt erworben, um der Pariser Zentralgewalt durch Flucht über die Grenze zu entgehen. Gebäude und Mobiliar stehen heute unter Denkmalschutz. War doch hier die einst verfemte, heute unisono einverleibte Heimstatt des großen Vordenkers bürgerlicher Freiheiten – somit ein Stück französischer Identität – zu Hause.

„Aus Respekt vor Voltaire und seinem Kampf für die Freiheit“, erklärt Kulturamtsleiter Alex Decotte, „müssen wir alles tun, damit das ChÛteau nicht in falsche Hände gerät.“ Er will im Sinne Voltaires einen Treffpunkt für Exilanten, Schriftsteller und Verfolgte einrichten. Und Bürgermeister Georges Vianès frohlockt: „Für McDonald's ist Voltaires Schloß noch zu teuer.“ „Noch“ fügt er mit gewisser Vorahnung hinzu.

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