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Wo Kamke den Ruß abwusch

Vergessen sind Kohle, Stahl und Staub: Oberhausen wird ein neues Herz implantiert, Europas größtes Einkaufszentrum. Aber die Käufer von morgen bleiben Kumpel von gestern  ■ Von Thorsten Schmitz

Einen Wunsch trägt Herr Kamke mit sich rum, seit er denken kann. Einen geheimen, noch nicht mal seine Frau weiß davon. Einen unerfüllbaren allerdings auch. Es sei denn, Kamke käme noch mal auf die Welt. Ohne Höhenangst.

In 71 Jahren kam Herr Kamke, Heinrich Kamke, noch nie hoch hinaus. Als er vor ein paar Tagen seine Tochter im achten Stock eines Hochhauses besuchte, mußte er sich übergeben: Er hatte es gewagt, einen Blick vom Balkon auf das nur noch spärlich dampfende Ruhrgebiet zu werfen. Einen Blick zuviel.

Von den Kamkes zum Gasometer Oberhausen sind es mit dem Rad gerade mal zehn Minuten. Der Gasometer – inzwischen gefüllt mit Kunst, nicht mehr mit Gas – ist der identitätsstiftende Kirchturm von Oberhausen und 110 Meter hoch. Von der Plattform aus läßt sich das in drei Stadtteile gesplittete Oberhausen gut erfassen, man kann bis Essen gucken und bis Duisburg und eine Ahnung davon kriegen, mit welcher Brutalität die Landschaft zubetoniert wurde.

Und man kann auf die größte Baustelle Westdeutschlands spucken. Das weiß Herr Kamke nur aus Erzählungen von schwindelfreien Leuten. Er selbst, der Stahlwerker a.D. mit dem Max-Schmeling- Touch im Gesicht, war „immer mit den Beinen auf dem Boden“. 45 Jahre lang stand er am Hochofen, heute geht er schief.

In die Luft gehen, das entspricht nicht seinem Naturell. Aber es würde ihm die Gewöhnung an die neue Zeit ungemein erleichtern, über den Dingen stehend, könnte er sich so mit ihr wenigstens arrangieren. „Wenn ich auf den Gasometer könnte, würde ich das Einkaufszentrum vielleicht verstehen“, sagt Herr Kamke und dreht sich eine Zigarette.

Herr Kamke und seine Frau wohnen Rücken an Rücken zur „CentrO“-Baustelle, in einer kafkaesken Sackgassensiedlung, die aus nur drei Straßen besteht und 22 Häusern, in denen 230 Menschen wohnen. 1899 wurde die Siedlung für die Beschäftigten der Gutehoffnungshütte errichtet, heute gehört sie der Thyssen AG. Die Leute hier leben gerne in den ruß- und zementstaubgeschwärzten Vierfamilienhäusern zwischen der sechsspurigen Autobahn, der Kloake Emscher und den Bahntrassen. Es gab Zeiten, da hat Herr Kamke, zusammen mit seinem Vater, sogar Kartoffeln geerntet – auf exakt dem Gelände, wo am 12. September CentrO, also Superhausen, eröffnet wird. Und wo davor Zementwerk, Kohlekraftwerk, Walzwerk, Hochöfen und Chemiefabriken der Gutehoffnungshütte lärmten und pusteten.

Sie bildeten einst das Zentrum von Oberhausen, als die Stadt 1929 mit den Gemeinden Sterkrade und Osterfeld zusammengelegt wurde. Oberhausen aber war und blieb bis heute eine Kommune ohne Innenstadt, ein seltsam konturloser Ort.

Anfang der neunziger Jahre ist Oberhausen, das höchstens in Staumeldungen vorkommt und in Berichten über die Kurzfilmtage, die Mitte abhanden gekommen. Das „Herz hatte aufgehört zu schlagen“, attestiert Oberstadtdirektor und Exlehrer Burkhard Drescher. Zwischen 1961 und 1986 verlor Oberhausen durch die Schwindsucht in der Montanindustrie 40.000 Arbeitsplätze, nur noch 191 sind erhalten geblieben.

Nach und nach schlossen die Fabriken und 17 Zechen, die Schornsteine rauchten nicht mehr, das Industriegelände gammelte vor sich hin. Eine große Depression legte sich wie Mehltau auf die Gemüter der Stadt, eine Stimmung wie zur Weltwirtschaftskrise. „Trostlos“, erinnert sich Oberstadtdirektor Drescher, „einfach trostlos.“ Ein neues ökonomisches und ideelles Herz einpflanzen, das war sein Wunsch, und auf der Suche nach einem geeigneten Implantat wurde er fündig in England. Dort saßen die Brüder Healey und warteten nur darauf, ihren Reichtum gewinnbringend auf 830.000 Quadratmetern einzusetzen.

Innerhalb der Rekordzeit von zwei Jahren errichteten die englischen Milliardäre einen gigantischen, 600 Meter langen Lego- Klotz auf altem Schwerindustriegelände, der aus Geschäften, Boutiquen und Kaufhäusern besteht, aus Fast-food-Imbissen, Restaurants, Bars und Multiplexkino. Drum herum ließen sie Bäume pflanzen und künstliche Seen anlegen, Abenteuerspiel- und Grillplätze, künstliche Brücken und asiatische Gärten – dort sollen die Menschen Erholung finden vom Shopping-Destrikt US-amerikanischer Dimension, Erwachsene für fünf Mark, Kinder bis zwölf umsonst.

Das CentrO, so groß wie 200 Fußballplätze zusammen, verspricht ein neues Zentrum für die Stadt mit den 14 Prozent Arbeitslosen von 226.000 Einwohnern. Tatsächlich ist es ein Einkaufszentrum auf der grünen Wiese ohne Post und mit 10.500 oberirdisch angelegten Gratis-Parkplätzen, das so überall stehen könnte und mit Oberhausen nie verwurzelt sein wird. Man rechnet mit bis zu 100.000 Kunden. Täglich.

Herr Kamke wird keiner sein. Wenn er mit dem Rad zum Tabakholen nach Alt-Oberhausen fährt, passiert er die unfaßbare Baustelle und wagt es nicht, mal anzuhalten. Die „neue Mitte“ ist ihm fremd, „man weiß ja nicht mal mehr, wo der Hochofen gestanden hat“. Selbst wenn er es wüßte, bezweifelte er, „ob das was für meinen Geldbeutel ist“. Und wenn sein Vater auferstehen könnte, würde der sagen: „Das ist nicht Oberhausen.“ Überhaupt: Was soll einer wie Herr Kamke mit japanischen Zierfischen, Yachten und Maredo Steakhouse anfangen auf einem Gebiet, wo er sich bis 1985 noch den Ruß abgeduscht hat? Der Warentempel, der Einkaufen zum Erlebnis verklärt, ist in Wahrheit ein Ufo aus fernen Zeiten.

Aus lauter Angst, das Raumschiff könnte als Kundenstaubsauger aktiv werden, taufen die drei proletarischen Stadtteil-Fußgängerzonen ihre Aldi-Filialen in „Center-Points“ um und legen Fahrradwege an.

Herr Kamke weiß, daß er die Zeit nicht anhalten kann, aber, fragt er mit achselzuckender Selbstverständlichkeit: Muß es so schnell gehen?

Um den Oberhausenern nicht das letzte Stück Geschichte zu entreißen, hat Oberstadtdirektor Drescher den Gasometer und Zechenfördertürme stehenlassen. Es hätte sonst die Gefahr bestanden, daß „die Oberhausener Oberhausen nicht mehr wiedererkennen“. „Nur noch 58 Tage“ flimmert eine Digitaluhr feuerrot über der CentrO-Baustelle. Über den 100 Hektar Unkultur.

Papperlapapp! korrigiert die umfangreiche Direktorin des Arbeitsamtes, und ihr dreilagiges Plisseekleid schüttelt sich gleich mit. Ob die neue Mitte nun ein ab Ladenschluß seelenloses Stück Konsumgut werde oder nicht, „das ist doch nun wirklich von nachrangiger Bedeutung“. Frau Sagemüller nippt wechselweise an ihrem terrinengroßen Kaffeepott und an der Zigarette, und diktiert mit sanfter Härte die eigentliche Mission des CentrO: erstens Arbeitsplätze, zweitens Arbeitsplätze und drittens Arbeitsplätze. „Aus dem Loch raus“, das gibt sie als hausinterne Losung aus. Wenn das CentrO nicht gekommen wäre, „das wäre das Unglück gewesen“. Aus ihrem Plisseekleid kann sie schlecht Jobs schütteln, da kommt ein Einkaufszentrum gerade recht. Und verlegt nicht deshalb Coca- Cola sein Hauptquartier von Essen nach Oberhausen?

Das CentrO-Management kann sich vor Bewerbungen kaum retten, täglich rufen mehr als 400 Menschen an und betteln um einen Vorstellungstermin. Die meisten allerdings rufen von außerhalb an, sogar aus Frankreich und England.

Eine neue Straßenbahntrasse, die auf der ehemaligen Zechentrasse langführt, hat Oberhausen bekommen, es gibt sogar eine Station „Arbeitsamt“ – vermutlich deshalb, weil die seit Ewigkeiten von der Sozialdemokratie getriebenen Stadtfunktionäre selbst nicht daran glauben, daß das ortsansässige Arbeitslosenheer mal kleiner werden könnte.

Bei der Eröffnung am langen Donnerstag des 12. September wird Frau Sagemüller nicht zugegen sein, obwohl sie natürlich eingeladen ist, sie hat „eine Besprechung“. Sowieso müßte sich CentrO „ziemlich anstrengen, um mich als Kundin zu gewinnen“. Für ihre Übergröße findet sie in Köln das Passende.

Die neuen Arbeitsplätze, nach denen die ungeschminkte graue Stadt so dürstet, „sind für die Kinder der Stahlwerker da, wir müssen denen eine Zukunft geben“, verrät Burkhard Drescher. Herr Kamke sitzt vor seinem Haus, wo er jeden Tag sitzt und beim Kreuzworträtseln über den nächsten Handgriff im Garten nachdenkt, und fragt sich: „Und was sollen die Alten mit der neuen Mitte?“ Der allseits geachtete Stadtdirektor, der Oberhausen liebevoll „graue Maus“ nennt und Herrn Kamke womöglich nicht kennt, hätte auch für die einen Rat parat: „Die können vom Gasometer aus sinnlich erfahren, wie sich ihre Heimat verändert.“

Oberhausen vollzieht einen Spagat. Viele finden die Stadt mit der bundesweit größten Tankstellendichte so unattraktiv, daß sie ihre Klamotten in Essen kaufen, die Dinge des täglichen Lebens in Mülheim um die Ecke. Ins Kino fahren sie nach Bottrop, weil es jetzt auch kein Programmkino mehr gibt in Oberhausen, und die Bars und Clubs sind in Köln sowieso besser. Sie sehnen sich nach was Neuem, aber das Neue der teuren Mitte ist ihnen zu neu.

Heinz Przybylski und seine Verlobte Christa Laskowski sitzen auf ihrer Wohnzimmercouch, gucken RTL, vor ihnen stehen eine Bierflasche und drei Mettwurstbrötchenhälften. Sie streiten sich oft so laut über das neue CentrO, daß der Wellensittich Protest zwitschert. Herr Przybylski arbeitet als Feuerungsmaurer in großer Hitze, und das auch noch in wechselnden Schichten. Seit er 14 ist, arbeitet er. Wer ihm die Hand gibt, spürt den Hobbyboxer in ihm.

„Die Leute sind auf der Straße und trinken“, nölt er und zupft die Jogginghose übern Bauch, „was sollen die mit CentrO? Für mich“, seine Stimme überschlägt sich dabei, und die Backen glühen rot, „für mich brauchen die das nicht zu machen.“ Er kenne jeden Strauch in Oberhausen und weiß daher, „daß viele andere auch so denken“. Oberhausen brauche keine neuen Geschäfte, die Stadt soll was für die Alten tun. Außerdem, fällt ihm ein, hat Oberhausen einen Aldi, „den besten Laden, den es gibt“. Seine Verlobte beschwichtigt, sagt, daß CentrO bombastisch sei, hm, und Oberhausen doch vorher „so tot“.

Herr Przybylski guckt zum Fernseher, zu seiner Verlobten, aufs Mettwurstbrötchen – und findet dabei die Alternative: „Natur hätten die da machen sollen, alles wild, wo haben wir denn hier Natur?!“ Wanderpfade und Feuchtbiotope und Blumenwiesen waren für die Mitte mal in der Diskussion – aber auch schnell wieder verworfen worden: Eine grüne Lunge hätte die ärmste Stadt Westdeutschlands nicht aus ihrem Aschenputteldasein erlöst.

Wenn die neue Mitte das Herz von Oberhausen ist, dann hat man ihm die Arterien gekappt. Nur von der auf vier Spuren verbreiterten Osterfelder Straße getrennt, sozusagen Trottoir an Trottoir, liegt ein Rest Thyssen-Stahlwerk, grau und braun, schwarz und olivgrün. Die jetzt funktionslosen Gasrohre, die früher über die Straße zur Mitte führten, sind abgeschnitten, sie ragen wie Verletzungen in die Luft. „Wir sind der letzte Rest“, sagt Burkhard Euwens in seiner Büroparzelle, und es klingt wie: Wir sind der letzte Dreck.

Auf der anderen Straßenseite Parkett, Halogenleuchter, Schwarzeneggers „Planet Hollywood“- Restaurant und Frauen in Jil-Sander-Kostümen – und bei ihm ein einziger Hochofen, an dem 191 Männer Edelstahlklötze herstellen, die andernorts zu Scheren und Draht geformt werden. 191 Überlebende einer industriellen Kultur, die zum Ausstellungsmaterial im Gasometer taugt.

Burkhard Euwens kümmert sich als Betriebsrat um frühzeitig pensionierte Kollegen – und darum, Gerüchte aus dem Revier zu schaffen. Jeden Tag taucht ein neues auf, daß Oberhausens letzter Stahlbetrieb doch dichtmacht. „Die Stimmung ist gedrückt“, sagt er, als könne er selbst kaum noch atmen. „Wir sind historisch“, sagt Euwens, und für die Dame von der CentrO-Presseabteilung „schick“. Das ist doch was: Auf dem Weg zur Parkebene ein Blick auf Oberhausens Schmuddelvergangenheit. Das Werk vis-à-vis dem Konsumpalast paßt nicht in die Landschaft, findet Euwens eigentlich, und es ist tragisch, daß die Stahlwerker vor vier Jahren die eigene Drahtstraße, die noch auf dem CentrO- Areal stand, im eigenen Hochofen einschmolzen. Die Männer haben ein bißchen von sich selbst aufgelöst, das fördert nicht gerade das Selbstvertrauen.

Halb Oberhausen urlaubt gerade auf Mallorca, die 191 Männer sowieso, aber auch sonst ist nicht mehr viel Betrieb beim Thyssen- Torso. Das Telefon von Burkhard Euwens klingelt selten.

„Wir waren Hüttenknechte“, kramt Herr Kamke in seinen Erinnerungen, „aber wir waren glücklich.“ Sein Leben war der Hochofen, seine Frau „hat nichts von mir gehabt“. Oft ist er am Küchentisch eingeschlafen, noch vorm Abendbrot. Insofern ist Herr Kamke froh, daß er nicht mehr heiße Bahngleise biegen muß. Jetzt beschäftigen ihn der Garten, die Enkel – und der Gedanke an eine Gasometer-Erklimmung.

Oberhausen, murmelt der baumlange Vater von neun Kindern maliziös und schlurft in den Garten, mache „alles weg“ und wolle unbedingt zum Luftkurort werden. Aber man frage sich doch, was da mal war. „Und auf einmal ist alles weg.“

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