: Händewaschen gegen die Seuche
Die neue Bakterie 0-157 hat in Japan bereits 6.000 Menschen infiziert und fünf Todesopfer gefordert. Bislang ist noch unbekannt, welches Lebensmittel die Krankheit überträgt ■ Aus Tokio Georg Blume
Lächelnd verteilte die japanische Kindergärtnerin unter den Eltern ein Flugblatt der Stadtverwaltung: „Präventionsmethoden gegen die Verseuchung zu Hause“ wurden dort angekündigt. Der Reporter lächelte zurück, steckte das Papier ein und ging seiner Arbeit nach.
Doch einen Tag später war der Sohn des Reporters an Durchfall erkrankt, und plötzlich bekamen die Flugblattregeln eine ganz andere Bedeutung: In Japan greift eine neuartige Lebensmittelseuche um sich, die mit Durchfall beginnt und besonders bei Kleinkindern tödlich enden kann. Aufgeschreckt nahm der Vater ein zweites Mal das Blatt der Tokioter Stadtverwaltung in die Hand: Gründliches Händewaschen mit reichlich Seife wurde angemahnt, außerdem sorgfältiges Abwaschen aller Küchengeräte, die mit rohen Lebensmitteln in Kontakt geraten und ferner das Erhitzen von rohem Fleisch für mindestens eine Minute auf 75 Grad. Es war zum Verzweifeln: Händewaschen gegen mögliche Todesgefahr? Erstaunlich also, wie ruhig Tausende japanischer Eltern bleiben, deren Kinder mit dem Krankgheitserreger 0-157 kämpfen. Bislang wurden 6.000 Menschen infiziert; zwei Mädchen schwebten gestern in Lebensgefahr, 25 weitere Kinder befanden sich im kritischen Zustand. In Kyoto gab der stellvertretende Bürgermeister am Montag das erste Todesopfer in Westjapan bekannt, und keiner zweifelte mehr, daß weitere folgen würden.
Im Mai hatte die Epidemie bereits vier Leben im Süden des Landes gefordert – nun drang sie sogar bis nach Tokio im Osten vor: Ein neunjähriger Junge hatte hier Anfang Juni rohe Leber gegessen und war anschließend an der Seuche erkrankt. Erstmals hatten Wissenschaftler in diesem Fall das krankeitsauslösende Lebensmittel entdeckt. Am Sonntag warnte die japanische Regierung alle Bürger vor dem Verzehr rohen Fleisches. Damit entsandte Tokio freilich noch eine zweite, unausgesprochene Botschaft: Die Epedemie geht alle in Japan an.
Oder die ganze Welt? Der Rechtsanwalt einer US-amerikanischen Verbraucherorganisation war bereits am Montag nach Tokio eingereist, um an vier ähnliche, durch 0-157-Bakterien in Hamburgern verursachte Todesfälle in den USA zu erinnern und eine internationale Koordination zur Bekämpfung der neuen Epidemie einzufordern. Wie auf Bestellung lieferte dazu die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf eine Liste der in den letzten 20 Jahren neuentdeckten Ansteckungskrankheiten: Dort rangiert die 0-157-Krankheit gleich neben Aids und dem Ebola-Fieber. Erste Ausbrüche der neuen Epedemie verzeichnet die WHO 1989 und 1993 in den USA und 1992 im südlichen Afrika. Aus Europa berichten japanische Medien derzeit von Einzelfällen in England. Schon aber wird klar: Der Seuchenausbruch in Japan ist „extraordinär und ohne Beispiel in seinem Umfang“ – so formuliert es die WHO.
„Wir geben der Suche nach den Ursachen der Epidemie höchste Priorität“, lautete gestern die lakonische Stellungnahme des Rathauses in der besonders hart von der Seuche getroffenen Stadt Sakai bei Osaka. Viel mehr aber ließ sich tatsächlich nicht sagen: Wasser, Milch, Fleisch und Fisch – Lebensmittel aller Art können die gefährlichen Bakterien übertragen. Und selbst, wo die Krankheit auftritt, läßt sich das verantwortliche Nahrungsmitel aufgrund der langen Inkubationszeit nur sehr schwer feststellen.
Was also essen? „Wenn wir den Schulkindern das Fleisch aus der Diät streichen, können wir unsere Ernährungsstandards nicht mehr einhalten“, lamentierten Beamte der Stadt Maebashi nördlich von Tokio. Doch in der Nachbarstadt Isezaki strichen die Behörden den Hamburger und frisches Obst aus den in Japan stets öffentlich verabreichten Schulgerichten. Schon erlebt das ausufernde Geschäft von Millionen japanischer Garküchen eine unerwartete Krise: „Wir versuchen alles mögliche: Desinfektion und längeres Kochen. Doch wir wissen nicht, was effektiv ist“, klagte ein Garküchenchef in Hiroshima. Und natürlich geht es jedem Hauskoch inzwischen so.
Dabei muß es vielen JapanerInnen schon wunderlich erscheinen, daß eine neue Seuche ausgerechnet sie zuerst erwischt. Bekannt ist das Inselreich für seine gnadenlosen Quarantänemaßnahmen, die keinem Ausländer erlauben, sein Haustier mitzubringen. Und AfrikanerInnen wird bei der Einreise ein Aidstest abverlangt. Jetzt haben japanische Experten allerdings festgestellt, daß vor allem die Fleischverarbeitung hierzulande rückständig sei.
Nur wenige hundert 0-157-Bakterien genügen, damit ein Mensch erkrankt – obwohl sich in einem Gramm menschlichen Stuhlgangs bereits mehere hundert Millionen Bakterien aufhalten. Der Reporter ist damit am Ende seines Lateins und freut sich, daß sein Sohn wieder eine normale Verdauung hat.
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