piwik no script img

Ein Zeuge des Untergangs

Zum hundertsten Geburtstag des Schriftstellers Hermann Kasack erscheinen eine Erzählung und Aufzeichnungen aus der Zeit des Kriegsendes  ■ Von Peter Walther

Ein Jungtalent entdeckt das andere: Im Verlag von Gustav Kiepenheuer in Potsdam saß 1921 der 25jährige Lektor Hermann Kasack. Drei Jahre zuvor hatte er selbst mit einem Gedichtband debütiert, und jetzt lag auf seinem Tisch das vorläufige Manuskript der „Hauspostille“ eines gewissen Bertolt Brecht. Kasack war von den Versen des Jüngeren begeistert und setzte sich für ihn ein. Zeitlebens sollte er beides sein: ein wichtiger Vermittler und Förderer von Literatur und ein Schriftsteller von eigenem Rang, dessen wichtigstes Werk, „Die Stadt hinter dem Strom“, das Zeitgefühl einer ganzen Generation ausdrückte.

Kasack wäre dieser Tage 100 Jahre alt geworden, was Anlaß für zwei verlegerische Initiativen war: Im Suhrkamp-Verlag erschien als Nachdruck aus der Neuen Rundschau von 1944 Kasacks Erzählung „Das Birkenwäldchen“. Gleichzeitig sind in der Edition Hentrich mit Unterstützung des Literaturbüros in Potsdam erstmals die Tagebuchaufzeichnungen Kasacks aus den letzten Kriegs- und den ersten Nachkriegstagen des Jahres 1945 erschienen, die der Sohn des Dichters, Wolfgang Kasack, herausgegeben hat. Beide Texte sind von zeitgeschichtlichem Wert und zugleich literarische Kostbarkeiten.

Hermann Kasack war auf Umwegen zu Suhrkamp gekommen. Nachdem er über fünf Jahre lang im Verlag seines Schwagers, Gustav Kiepenheuer, als Lektor gearbeitet hatte, stellte ihn Samuel Fischer, der legendäre Begründer des Fischer-Verlages, 1925 als Verlagsdirektor ein. 1936, als Gottfried Bermann-Fischer und seine Frau aus Deutschland fliehen mußten, übernahm Peter Suhrkamp die Leitung des Verlages, der sich fortan „Suhrkamp Verlag, vorm. S. Fischer“ nannte. Trotz des Besitzerwechsels und der Umbenennung war der Verlag von Suhrkamp als ehemals „jüdischer Verlag“ dem besonderen Argwohn der Nazis ausgesetzt – Goebbels bezeichnete ihn als „Verlag des 20. Juli“. Peter Suhrkamp holte Kasack nach dem Tod von Oskar Loerke als Cheflektor in seinen Verlag. Als Suhrkamp 1943 in Gestapo-Haft kam, setzte Kasack den Betrieb fort. Um dem Verhafteten eine Nachricht zukommen zu lassen, ein Zeichen der Solidarität, schrieb Kasack – als eine Art „öffentliches Kassiber“ – die Erzählung „Das Birkenwäldchen“. Er publizierte sie in der Neuen Rundschau, wo sie Suhrkamp in der Haft lesen konnte.

„Das Birkenwäldchen“ ist die Geschichte einer Zufallsbekanntschaft in der Bahn. Auf seinem Arbeitsweg mit der S-Bahn von Potsdam nach Berlin fällt dem Erzähler ein Mann auf, der sich durch seine Erscheinung und seine Haltung von den anderen Fahrgästen unterscheidet. Immer, wenn die Bahn das Ruinengrau der Stadt hinter sich gelassen hat und an einer bestimmten Stelle vorüberfährt, blickt er auf die unscheinbare Gegend und lächelt aus unerfindlichem Grund. Die Männer lernen sich im Laufe der Zeit kennen, und der Erzähler kommt der rätselhafter Freude seines neuen Bekannten bald auf den Grund: Es ist ein Wäldchen dicht beieinander stehender fragiler Birkenstämme.

Die beiden sind sich in ihrer Liebe zur Natur und in der Vorfreude auf den nahenden Frühling einig, sie vereinbaren einen gemeinsamen Ausflug, um Potsdam und seine Umgebung zu erkunden. Doch leider wird nichts aus dieser geplanten Unternehmung, der neue Bekannte erleidet bei einem Fliegerangriff eine schwere Augenverletzung, und es ist ist unklar, ob er jemals wieder wird sehen können. Kasack hat mit dieser nur scheinbar belanglosen Geschichte ein Zeichen gegen die dumpfe Aggressivität des Kriegs gesetzt, den die Nazis nicht nur nach außen, sondern auch nach innen führten. Die Geschichte wirkt alles andere als konstruiert, und dennoch ist sie bis in die Details der Sprache und der Komposition durchdacht.

Sein Chef Suhrkamp wurde wegen einer schweren Erkrankung im Februar 1945 aus dem KZ Sachsenhausen entlassen, stieg in Oranienburg in die S-Bahn und tauchte frühmorgens um vier Uhr in Potsdam bei Kasacks auf. Der Verleger Henry Goverts beschreibt die Szene in einem Brief an Hermann Hesse: „Frau Kasack öffnete und prallte beim Anblick eines totenkopfähnlichen Gesichtes zurück (...) Peter Suhrkamp setzte sich in Kasacks Zimmer und entlud sich, sprach sich aus bis in den Morgen hinein, dann brach er zusammen, hatte vierzig Grad Fieber und eine Lungenentzündung.“ Der Verleger lebte in den kommenden Monaten in Potsdam, bis er im Herbst 1945 als erster britischer Lizenzträger seinen Verlag in Berlin anmeldete.

Von dieser Zeit – von April bis Ende Juni 1945 – berichten die „Tage- und Nachtblätter“ Hermann Kasacks, der die letzten Kriegstage und die russische Eroberung in Potsdam erlebt. Diese Aufzeichnungen sind mehr als nur dem Chaos des Zusammenbruchs entrungene, flüchtig hingeworfene Notizen. Vielmehr finden sich in in diesen Blätter – neben genauen Beobachtungen des Alltags – Analysen des Zeitgeschehens und Reflexionen von visionärer Kraft. Anders als bei den meisten Deutschen hatten die Besatzer aus der Perspektive des verfemten Dichters einen Bonus als Befreier vom Terror der Nazis. So zwang er sich, in den Schrecken der ersten Tage, den Vergewaltigungen und willkürlichen Erschießungen, die Logik des verlorenen Krieges zu sehen, von der er selbst auch nicht verschont blieb.

Das Haus der Kasacks diente kurzzeitig 70 Soldaten der Roten Armee als Quartier, während die Vorbesitzer im Keller Unterschlupf fanden. Auf dem Mittelstreifen der Straße wurden zu Dutzenden Gräber ausgehoben, vor eines davon mußten sich Kasack und seine Frau bei einer Scheinerschießung stellen, während ein Maschinengewehr auf sie gerichtet war.

Kasack ahnte, welchen Gang die Dinge nehmen würden. Im Gespräch mit Suhrkamp im Juni 1945 bekennt er: „Ich neige mehr und mehr dazu, daß sich niemand dem Zuge der Kollektivität als Schicksal entziehen können wird.“ Das „Zeitalter Europas und des Europäertums“ ist vorüber, Asien hole sich die einst abtrünnig gewordene Landzunge zurück. Anschauliche Bestätigung dafür bot die Besetzung der Potsdamer Dependance des Suhrkamp-Verlages durch „einen mongolischen Trupp“. Kein Zeichen der Erleichterung ob der Befreiung von der Nazidiktatur: „Wir stehen ja erst am Beginn des völligen Untergangs“, schreibt Kasack, der die Verhältnisse in der Sowjetunion jenseits der Propagandaklischees beurteilte, in sein Tagebuch. Und wenige Wochen nach der Zeitenwende hält er fest: „Vielleicht werden sämtliche Verlage in absehbarer Zeit Ausdrucksträger des Staates.“ Erstaunlich ist auch die Genauigkeit, mit der Kasack aus der Perspektive des Eingeschlossenen die militärische und später die politische Lage beurteilte. Dies im Nachwort und vor allem in den enzyklopädischen Anmerkungen deutlich gemacht zu haben ist das große Verdienst von Günter Wirth. Denn eigentlich haben wir es mit zwei Büchern zu tun, den Tagebuchaufzeichnungen von Kasack und dem Anhang von Wirth. Dessen fundierten lokalgeschichtlichen und literaturhistorischen Anmerkungen lesen sich notfalls auch ohne den Bezug zum Haupttext spannend und flüssig herunter. Wirth hat den Dichter 1948 noch in Potsdam erlebt, im Februar des Folgejahres ging Kasack in den Westen, wo er 1953 Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt wurde. Vor 30 Jahren ist er in Stuttgart gestorben. Im Osten war er zur Unperson geworden. „Die Stadt hinter dem Strom“ konnte hier erst im Herbst 1989 erscheinen – pünktlich zur nächsten Zeitenwende.

Hermann Kasack: „Das Birkenwäldchen“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, 52 S., 24 DM. „Dreizehn Wochen. Tage- und Nachtblätter“, Edition Hentrich, Berlin 1996, 336 S., 32 DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen