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„Schleppe-Klinik“ bleibt Anlaufpunkt

Nach Häuserräumung und Vertreibung durch die Polizei haben sich die Trebekids über die Stadt verstreut, doch die Kreutzigerstraße in Friedrichshain bleibt für sie weiterhin ein zentraler Treffpunkt und Zielort für einen Schlafplatz  ■ Von Tobias Rapp

„Die Kreutzigerstraße ist in Ordnung“, sagt Torsten* „da hab' ich auch mal gewohnt.“ Im Moment treibt er sich aber mit einem Grüppchen anderer Punks in der Nähe des Alexanderplatzes herum. Sein Alter will er nicht sagen, älter als 16 Jahre ist er aber auf keinen Fall. Er trägt kaputte Springerstiefel, eine zerrissene Militärhose und ein zerrissenes T-Shirt. Auf dem besetzten Pohlgelände in der Kreutzigerstraße habe er gewohnt, doch seit der Räumung vor ein paar Monaten schläft er „mal hier und mal da“.

Die Kreutzigerstraße im Bezirk Friedrichshain ist seit der Räumung der Mainzer Straße im November 1990 die letzte besetzte Straße der Stadt. Sieben der acht Häuser haben mittlerweile Miet- oder Nutzungsverträge, trotzdem gilt die Straße bei der Polizei als Unruheherd.

Zwar erklärte sie die Kreutziger nicht zum „gefährlichen Ort“, doch es gab in der Straße auch in diesem Jahr mehrere große Polizeieinsätze. Zuletzt, um ein besetztes Hinterhaus in der Nummer 11 zu räumen. Dies war vor allem von Ausreißerkindern bewohnt. Seitdem ist es zumindest tagsüber in der Straße ezwas ruhiger, weil die Kids sich eher auf dem Alexanderplatz aufhalten. Nachts kommen aber viele von ihnen zurück, um ihre Schlafplätze auf Dachböden, Dächern oder in besetzten Wohnungen aufzusuchen.

Für Frank*, Bewohner eines der ehemals besetzten Häuser, haben die Räumungen am Problem nichts geändert, sie haben die Situation eher verschärft. Das Vorderhaus der Rigaer Straße 80 sei ein „Kiddiehaus“ gewesen und geräumt worden, das Pohlgelände und das Hinterhaus der Kreutziger 11 auch. Eigentlich brauche sich niemand zu wundern, wenn besoffene Vierzehnjährige nachts „Scheiße bauen“ würden, vertritt Frank. „Die Trebekids haben keinen Raum, und wenn sie sich Raum nehmen, werden sie vertrieben.“ Solange es kein Wohnprojekt gebe, müßten sie sich irgendwo eine Unterkunft suchen.

Die meisten der Straßenkinder seien aus gutem Grund zu Hause weggelaufen, glaubt Frank. Die wenigsten treibe die Abenteuerlust „just for fun“ auf die Straße. Mit der Kreutzigerstraße verbänden die Trebekids noch am ehesten so etwas wie Toleranz. „Die wissen doch genau, daß sie sonst nemand will.“

Barbara Weichler-Wolfgramm ist Ärztin und hat ihre Praxis in der Kreutzigerstraße. „Schleppe-Klinik“ ist in bunten Grafittilettern über die Eingangstüre gesprüht. Sie genießt bei vielen Trebekids eine Vertrauensposition, denn sie versorgt die Kinder medizinisch und holt sich das Geld über die Krankenversicherungen der Eltern zurück, ohne Angaben über den Aufenthaltsort der Kids zu machen.

Zu ihr kommen die Kinder mit „Schleppe“, einer durch mangelhafte Ernährung und schlechte hygienische Bedingungen hervorgerufene Hautkrankheit. Der schlechte Gesundheitszustand vieler Straßenkids werde oft noch verstärkt durch den Mischkonsum verschiedener billiger Drogen und Alkohol. „Ich sehe aber auch die Wunden, die die Kinder durch Schläge von Polizisten davongetragen haben. Ich habe hier vierzehnjährige Mädchen mit Schlagstockspuren“, sagt Barbara Weichler- Wolfgramm.

Eine Politik, die den Kindern helfe, sieht für die Ärztin anders aus. Durch die Räumungspolitik des Senats würden die Gruppen der Kids zerschlagen und die Probleme individualisiert und kriminalisiert. Das Gegenteil wäre nötig. Wenn man den Kindern wirklich helfen wolle, dann müßten sie in ihren eigenen Strukturen bestärkt werden. Die Ärztin hält die Gruppenstrukturen der Kinder für einen selbstgeschaffenen Familienersatz, hier müsse ihnen Verantwortung übertragen werden.

Natürlich müsse den Kindern Verantwortung übertragen werden, sagt auch Barbara Bütow, Leiterin des Friedrichshainer Jugendamts. Konkret brauchten die Kinder aber eine Begleitung, „jemand der zur Not sagt, bis hierher und nicht weiter“. Zwar würden die Straßenkinder in ihren Gruppen Organisationsformen entwickeln, die reichten jedoch nicht aus, glaubt Barbara Bütow. Von der Idee eines „Weglaufhauses“ hält sie nichts. Das sei kein Konzept, das sie gutheißen könne, so etwas halte sie für „pädagogisch falsch“.

Was im Bezirk fehle, sei kein Weglaufhaus, sondern ein niedrigschwelliges Angebot. Ihre Behörde stehe auch schon mit freien Trägern in Verhandlung über die Einrichtung einer solchen „offenen Stelle“. Gedacht sei an einen Ort, an dem die Straßenkinder sich waschen und übernachten könnten. Räume in der Boxhagener Straße gebe es schon. Wenn alles gut laufe, könne man sie im Oktober einweihen. Ziel ihrer Behörde sei es, die Kinder in ein geregeltes Leben zurückzuführen. „Wir können niemanden dabei unterstützen, weiter auf der Straße zu leben“.

Es muß auch kein Kind auf der Straße leben, sagt Barbara Bütow. Wenn ein Kind zum Amt komme, werde es versorgt und zum Beispiel in eine betreute Wohngemeinschaft vermittelt. Nach der Räumung des Hinterhauses in der Kreutzigerstraße 11 hätten sie versucht, über einen Streetworker Kontakt zu den Kids aufzunehmen. Zwei Kinder hätten daraufhin das Angebot betreuter Wohnplätze angenommen.

Kuki* gehört nicht dazu. Für sie kommt betreutes Wohnen nicht in Frage. Sie ist 15 Jahre alt und aus einem kleinen Ort in der Nähe von Dresden. Vor einem halben Jahr ist sie von Hause abgehauen, „wegen Streß“. Genaueres will sie nicht sagen. In Berlin wohnte sie zuerst auf dem besetzten Pohlgelände, nach der Räumung suchte sie sich einen Dachboden „in der Nähe“.

Sie hätte zwar gerne eine Wohnung. Weil sie glaubt, von der Polizei gesucht zu werden, will sie aber mit Behörden nichts zu tun haben. Außerdem will sie niemanden, der ihr sagt, was sie zu tun oder zu lassen habe. „Da hab ich keinen Bock drauf.“ Irgendwann will Kuki vielleicht wieder zur Schule gehen, aber erst mal nicht und in Sachsen sowieso nicht.

Im Moment schnorrt sie sich ihr Geld zusammen, wohnt auf ihrem Dachboden und wäscht sich bei Freunden, die eine Wohnung besetzt haben. Das sei besser, als wenn andere ihr ihre Vorstellungen von „Normalität“ überstülpen würden. „Für dich sieht das vielleicht so aus, als ob's mir Scheiße ginge, mir geht's auch Scheiße, aber mir erzählt niemand, was ich machen soll. Und das ist wichtig.“

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

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