: Trip in den „Güllegürtel Europas“
Mit den Hörfunk-Erzählerinnen Frieda und Anneliese unterwegs im Altkreis Wittlage. Bisamrattenzucht und Stoßgebetproduktion sind die wichtigsten Wirtschaftsfaktoren des Landstrichs ■ Von Harald Keller
Es geht aufs Land hinaus. Wir haben eine Verabredung mit Frieda und Anneliese, jenen beiden schon etwas betagteren Damen, deren bezaubernde niederdeutsche Mundartenerzählungen längst auch vom Rundfunk verbreitet werden und weit über die Region hinaus eine große und treue Anhängerschaft gefunden haben. Bekannt von Funk und Fernsehen sind sie, aber der heimatlichen Scholle verbunden geblieben. Sofern diese nur mit ausreichend Remouladensoße serviert wird.
Die Wiege der beiden Chronistinnen ruralen Lebens stand am Hunte-Strand im Altkreis Wittlage. Das beschauliche Hinterland der im Schatten des Wiehengebirges gelegenen, einstmals blühenden Kreismetropole ist heutzutage schwer zu erreichen. Verlassen und zugenagelt liegt der Bahnhof Rabber inmitten wogenden Grüns, einsam fleht ein Schild aus der Idylle: „Hier könnte Ihre Werbung stehen.“ Ein Ökotopia, aber ein unwegsames. Es bedarf schon eines geländegängigen Kraftmobils, um bis in diese abgeschiedenen Auen vorzudringen. Doch selbst die verläßliche Untertürkheimer Präzisionsmaschine weiß irgendwann nicht mehr weiter. Die letzten Meter bewältigen wir zu Fuß.
Wir werden überaus herzlich empfangen, nachdem wir auf ein zerfleddertes Gesangbuch geschworen haben, nicht den Zeugen Jehovas anzugehören. Zutraulich öffnet Anneliese nun auch die untere Türhälfte. Drinnen winkt Frieda freundlich mit dem Gehstock. Wir dürfen in der urgemütlichen Küche Platz nehmen. Flink hat Anneliese einen Beutel kalten Kaffees aus dem Gefrierschrank geholt und in der Mikrowelle erhitzt. Dankbar schlürfen wir den dampfenden Sud und probieren notgedrungen von der weitgehend selbstgemachten Erdbeer-Zucchini-Barrakuda-Torte.
Im Dreistromland zwischen Hunte, Radde und Mittellandkanal, in ADAC-Reiseführern auch als „Bermudadreieck“ oder „Güllegürtel Europas“ gespriesen, wird Gastfreundschaft noch großgeschrieben. So jedenfalls ist es Brauch, seit im Zuge der Bildungsreform per Lastkahn und Leiterwagen der erste Duden ins Pastorenhaus geschafft werden konnte.
Nach der dritten Tasse doppelt koffeinierten Muckefucks und einem kräftigen Schluck Doppelherz wird auch Frieda langsam wieder lebendig. Am Abend zuvor war sie Ehrengast der Sonnenwendfeier der schlesischen Landsmannschaft gewesen. Das Aufrichten des Holzkreuzes mit der strohgefüllten Gerhard-Schröder-Puppe hatte sie doch einiges an Kraft gekostet, auch wenn der Anblick der brennenden Balken hernach ordentlich für die Anstrengung entschädigte. „Das geht in meinem Alter alle nich' mehr so“, schnarrt sie gequetscht in jenem für die Hunte- Niederung so typischen Patois, das sich bei Volksempfänger- und Ghettoblaster-Besitzern gleichermaßen größter Beliebtheit erfreut.
Nun aber ist Frieda putzmunter. Sie reckt ihr ergrautes Haupt, und ihre klugen Greisinnenaugen blitzen fröhlich, als sie ihren Gästen eine Einführung in die Topographie ihrer Heimat zuteil werden läßt: „Der Altkreis wird durchschnitten von der sogenannten Bienenstichgrenze. Das ist der Mittellandkanal. Nördlich des Mittellandkanals kennen die Leute ja keinen Bienenstich.“
„Oder wenn, machen se ihn mit Margarine. Hier wird das mit guter Butter gemacht“, wirft die rührige Anneliese ein.
„Der Mittellandkanal“, bellt Frieda, ungehalten über die Unterbrechung, „ist die Bienenstichscheide. Ganz andere Menschen, die da nach der nördlichen Seite wohnen.“
Wir wollen uns von den Sehenswürdigkeiten des Altkreises Wittlage nicht nur berichten lassen, sondern diese selbst in Augenschein nehmen. Die rüstigen alten Damen haben sich bereit erklärt, uns Wege und Rückwege zu weisen. Der Mittellandkanal ist denn auch unser vornehmstes Ziel. Die berüchtigte Nordseite werden wir meiden. Zu viele sind von dort nicht zurückgekehrt. Wir nähern uns der vielbefahrenen Wasserstraße von Süden und erklettern das Steilufer, auch für uns Jüngere keine leichte Angelegenheit. Endlich stehen wir auf dem Kamm des Deiches – und ein atemberaubendes Panorama belohnt uns für unsere Mühe. Bis zum Horizont erstreckt sich die blaßbraune Wasserfläche. Fröhlich spielt der Wind mit den Wellen und bewirft uns alle mit faulstichiger Gischt. Deutlich hören wir die Fanfaren der alten Verladestation Willkommenshöft, die jeden der durchfahrenden stolzen Binnenseeriesen mit der Nationalhymne seines Herkunftslandes begrüßt. Just in diesem Moment bietet sich uns ein stolzer Anblick, als ein unter masurischer Flagge fahrender majestätischer Panzerkreuzer würdevoll in unser Blickfeld gleitet.
Die passionierte Heimatkundlerin Frieda knüpft an ihre früheren Darlegungen an: „Der Mittellandkanal verbindet den Landkreis mit der großen weiten Welt. Von hier aus kann man ohne Probleme nach Amsterdam, Dortmund und nach Berlin trampen, zu den großen Seniorenfestivals. Oder nach Osnabrück nach'n Brenninkmeyer, um Stützstrümpfe oder einen neuen Übergangsmantel zu kaufen. Aber nur, wenn in der Altkleidersammlung wirklich nichts Passendes zu finden ist...“
Der Mittellandkanal ist die Bienenstichscheide
Anneliese wartet mit weiteren interessanten Fakten auf: „Das ist auch einer der berühmten Handelswege von Ost nach West. Tote Schweine werden hier haufenweise zwischengelagert. Auch wohl mal Hühnerleichen.“
Frieda macht uns auf einen anderen packenden Gesichtspunkt aufmerksam: „Hier kommen auch ganze Binnenschiffladungen mit arbeitswilligen Polen an, die hier die Erdbeeren pflücken in der Gegend.“
Neben der Bisamrattenzucht und der Stoßgebetproduktion sind die Erdbeerplantagen der Hauptwirtschaftsfaktor in dieser Region. Darum sprechen die Einheimischen gerne auch vom „Roten Gold“. Mitunter freilich haben die sonst strotzend roten Beeren einen leichten Stich ins Gelbe, und ihr Aroma erinnert entfernt an Ammoniak. Kenner nennen diese Sorte „die Früchte des Zorns“.
Noch weitere einheimische Wirtschaftsgüter sind über die Grenzen des Altkreises hinaus bekannt geworden, wie Anneliese nüchtern erläutert: „Das Legemehlhebewerk von Pohlmanns ist auch nicht weit, da nach Hunteburg runter. Von da wird auch Flüssigküken durch den Kanal geleitet. Direkt bis nach Berlin kann man das abzapfen, für die Nudelproduktion zum Beispiel.“
In ferner Zukunft soll der Standort Mittellandkanal sogar noch an Bedeutung zunehmen, wie Anneliese in Erfahrung bringen konnte: „Schröder hat angekündigt, das soll jetzt ein Wasserskigebiet werden. Der Kanal muß anders genutzt werden. Und ich nehme an, daß sie auch bald Pötte bauen. Dicke Pötte.“ Breit genug ist der Kanal bereits, da auf Euro- Schiffe ausgelegt. Frieda kann ihren Stolz nicht verhehlen: „Das haben alles Asylbewerber gemacht. Glaubt man nicht... Sonst sehen die gar nicht danach aus. Aber wenn man ordentlich hinterhersitzt, können die auch was tun.“
Anneliese stimmt dem zu: „Auch ohne Werkzeug. So man rin mit der Hand in den Boden, nich'.“
Schließlich habe, so hat Frieda beobachtet, „so ein Afrikaner ganz andere Hände“. Anneliese weiß, wovon die Rede ist: „Och sicher. Mehr so Teller. Der ist dafür geschaffen.“
Bekanntlich bringt der Afrikaner bereits einige Erfahrung mit vom Bau des Suezkanals. Frieda: „Der Afrikaner kennt das gar nicht anders. Wenn du einem Afrikaner die Peitsche wegnimmst, ist das, wie wenn du einem Deutschen die Mittagspause streichst.“
Es fällt schwer, den Blick zu wenden, aber wir müssen scheiden. Während wir die Böschung hinunterpurzeln, weist uns Frieda auf den Starkstrommast „Wehrendorf 4“ hin. Für die alte Dame verbinden sich mit den Anblick des eisernen Riesen ganz besondere Erinnerungen: „Während der Proteste gegen die Castor-Transporte hatten wir solche Angst, daß uns die Kühltruhe ausfiel, weil die Strommasten abgesägt werden. Da haben wir uns angekettet eine Nacht und aufgepaßt, daß nichts passiert.“
Schmalzstullen sind regionale Spezialität
Wir beschließen, unseren geselligen Ausflug im „Café Rad ab“ zu beenden, für Frieda und Anneliese eine willkommene Gelegenheit, noch beim Schlußverkauf vom Reifencenter Glösekötter reinzuschauen. Inmitten einer pittoresken Altreifenlandschaft, unter Altkreisgastronomen der letzte Schrei, bekommen wir auf Anweisung unserer beiden Gastgeberinnen eine lukullische Spezialität der regionalen Küche vorgesetzt: deftige Schmalzstullen. Das Schmalz stammt von den Kleinbauern der Umgebung und wird noch von Hand abgepumpt, und zwar ausschließlich aus den Ohren der eigenen Familienangehörigen. Daß es damit seine Ordnung hat, kann durch Vorlage einer pastoral beglaubigten Geburtsurkunde jederzeit nachgewiesen werden.
Mit einem unvergeßlichen Geschmack im Mund und ebensolchen Eindrücken verabschieden wir uns vom Altkreis Wittlage, nicht ohne Frieda und Anneliese in die faltigen Hände versprochen zu haben, bald mal wieder reinzuschauen. So viel Sehenswertes gebe es noch zu bestaunen, die katholische Raketenabschußrampe in den Tiefen des Wiehengebirges zum Beispiel, die penibel nach Wüstenrot-Prospekt errichteten Datschen der Rußlanddeutschen, die Kurve, in der Pritzels wohnen. Wir seufzen leise und sind uns einig: die Rückfahrt ist die Krönung eines wunderbaren Tages.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen