: Das Monster bleibt verborgen
Die Überraschung ist weniger, daß Gail Devers die 100 m gewinnt – eher, daß die toughe Gwen Torrence sich als gute Verliererin inszeniert ■ Aus Atlanta Matti Lieske
„Unsere Zeiten sind so nah beisammen, daß eine Winzigkeit entscheiden kann“, hatte Gwen Torrence vor jenem 100-m-Finale gesagt, das am Abend nach der Bombe im prallgefüllten Olympiastadion stattfand: „Es kann aber auch sein, daß jemand das Rennen übernimmt.“ Lange sah es so aus, als würde der letztere Fall eintreten. Gail Devers, die schon vor vier Jahren in Barcelona gewonnen hatte, stürmte vorneweg und schien einem sicheren Sieg entgegenzulaufen. Doch Merlene Ottey aus Jamaika war nicht gewillt, die Chance vorübergehen zu lassen, endlich Olympia-Gold zu gewinnen. Auf den letzten zwanzig Metern kam sie mit jedem Schritt näher an Devers heran und hatte sie genau auf der Ziellinie eingeholt.
Neben ihr kämpfte auch Gwen Torrence darum, jene Sache zu erreichen, auf die sie sich jahrelang vorbereitet hatte: in ihrer Heimatstadt Atlanta den olympischen Sprint zu gewinnen. Seite an Seite flogen die drei schnellsten Frauen der Welt durchs Ziel – und dann begann ein langes Warten. Nach eingehender Begutachtung des Zielfotos wurde schließlich bekanntgegeben, daß Devers (29) Gold gewonnen hatte, Ottey (36) Silber und Torrence (31) Bronze. Es war eine Konstellation, die vor allem Merlene Ottey unangenehm bekannt vorkam. Bei der WM 1993 in Stuttgart hatte es dieselbe Reihenfolge gegeben, und die Jamaikanerin ist bis heute überzeugt, daß damals sie und nicht Devers das Rennen gewonnen hat. Die Wiederholung des vermeintlichen Betruges ließ Ottey jegliche Contenance verlieren. „Sind Sie ein amerikanischer Journalist“, fauchte sie einen Fragesteller an, „wenn ja, dann rede ich nicht mit Ihnen. Ich werde mich nie an Silber gewöhnen.“
Ganz anders kam Gwen Torrence daher, die zentrale Figur dieses olympischen Sprints. Der liegt die Rolle der Furie gemeinhin viel besser als Ottey. Doch nichts davon. Brav umarmte Torrence nach der Urteilsverkündung die Siegerin Devers und drehte sogar eine Ehrenrunde mit ihr. Danach plauderte sie freundlich mit den Journalisten und verzichtete auf jeden Seitenhieb gegen die Konkurrentinnen. In Barcelona, wo sie Vierte geworden war, hatte sie noch mit der trotzigen Bemerkung für Aufsehen gesorgt, daß zwei der drei Medaillengewinnerinnen „schmutzig“ seien.
Es war ein Ausbruch, den sie auch heute nicht bedauert. „Das einzige, was ich jetzt anders machen würde, ist: das Rennen gewinnen.“ Solches blieb ihr nun auch in Atlanta verwehrt. Dennoch erklärte sie: „Ich bin ekstatisch. Ich wollte das Gold, aber ich bin überglücklich, irgendeine Art von Metall zu bekommen.“ Bronze hatte ihr gefehlt, nachdem sie 1992 Gold über 200 Meter und in der 4 x 100- m-Staffel sowie Silber über 4 x 400m gewonnen hatte.
Gerne wird sie auf der Straße gefragt, ob sie nicht die berühmte Gwen Torrence sei. Dann murmelt sie normalerweise ein mißgelauntes „no“ vor sich hin. Nun wirkte sie plötzlich sehr aufgeräumt. Möglicherweise liegt dies daran, daß sie in Atlanta sozusagen Gastgeberin ist.
Nicht weit vom Olympiastadion, im Atlanta-Vorort Decatur, wuchs sie in der Siedlung East Lake Meadows auf. Es ist nicht das übelste Viertel der Region, aber doch eine Gegend, in der Drogen und Gangs durchaus präsent waren. Hier wurde sie das, wofür es in der deutschen Sprache keine geeignete Übersetzung gibt: „tough“. Die Fotografin Annie Leibovitz hat sie kürzlich für ihr Buch „Olympische Bilder“ porträtiert, und das Bild zeigt Gwen Torrence exakt so, wie sie in der Öffentlichkeit gesehen wird: hart, kalt, unnahbar, mißtrauisch und mit einem Gesichtsausdruck, der besagt: „Laß mich in Ruhe oder ich haue dir aufs Maul.“
Genau dies hat sie in ihrer Jugend die meiste Zeit getan. „Wenn du in der Siedlung lebst, mußt du dir einen Namen machen“, sagt sie über ihre Kindheit in East Lake Meadows. Als Kind jagte sie einen Nachbarjungen mit zwei Fleischermessern, weil er ihr einen Ball an den Kopf geworfen hatte – aus Versehen, was ihr jemand rechtzeitig mitteilte. Noch auf dem College wollte sie eine Schwedin vermöbeln, die ihr beim Basketball freundschaftlich das Hinterteil getätschelt hatte. Und auch ihre Entdeckung für die Leichtathletik kam zustande, weil sie auf der High School einen Mitschüler verfolgte und einholte – zufällig den schnellsten Wide Receiver des Footballteams der Schule.
Zunächst wollte die sehr modebewußte Torrence nicht laufen, weil es ihr blöd vorkam, in kurzen Hosen herumzurennen. Dann stieg sie doch ein, sammelte schnell Erfolge und war völlig überrascht, als sie bei ihrem ersten internationalen Meeting in Rom 800 Dollar ausgehändigt bekam. „Ich wußte nicht, daß man fürs Laufen bezahlt werden kann.“ Seitdem hat sie nicht schlecht verdient, sich dabei aber einen miserablen Ruf erworben. Selbst in ihrer Heimatstadt war der Beifall für sie am Samstag nicht viel größer als für die von der Westküste stammende Devers. Leichtathletik in den USA ist eben eher eine Sache für wohlerzogene Sprößlinge des Mittelstandes als für Ghettokids mit ungehobeltem Benehmen.
„Keiner mag sie“, sagt Julie Cuthbert über Torrence, und langsam scheinen solche Sätze, über die sie früher kaltlächelnd hinwegging, Wirkung zu zeigen. „Ich bin nicht diese böse Person, die die Leute aus mir machen“, protestiert sie und versucht zumindest, entsprechend zu handeln. „Sie lernt gerade, sich zu kontrollieren, ihren Hintergrund nicht wie ein Monster, einen üblen Zwilling hervorkrabbeln zu lassen“, sagt Pauline Davis von den Bahamas, eine der wenigen Freundinnen, die sie unter den Sprinterinnen hat.
Nach der Enttäuschung im 100-m-Finale, die ihr nur noch Hoffnung auf Staffel-Gold läßt, hatte Gwen Torrence das Monster erstaunlich gut im Griff.
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