: Die spendablen Bürger von Wetzlar
Neue Autoreifen, frische Batterien und schußsichere Westen, ein Verein will „seine“ Polizisten besser ausstatten: damit man sich in Wetzlar Tag für Tag ganz sicher fühlen kann ■ Ein Gefühlsbericht von Philipp Maußhardt
„Kreisstadt an der Lahn“, schreibt das dtv-Lexikon, „Hessisches Institut für Lehrerfortbildung, Industriefestspiele, optisch- feinmechanische Industrie“. Außerdem viel Fachwerk (Altstadt) und viele Ausländer (Neustadt).
Von 55.000 Einwohnern haben etwa 8.700 keinen deutschen Paß. „Macht 15,9 Prozent“, sagt Gerhard Neumann, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) in Wetzlar. Die meisten von ihnen sind Türken und von Leitz und Buderus in die Arbeitslosigkeit entlassen. Im Stadtteil Niedergirmes ist jeder dritte Bewohner Ausländer. „Sprechen Sie dort mal mit Deutschen“, empfiehlt der Fraktionsvorsitzende der CDU im Kreistag, Hans-Jürgen Irmer, „da kommt nicht unbedingt Freude auf.“
Neumann und Irmer sind Gründungsmitglieder von „Pro Polizei“, ein Verein, der Spenden sammelt für die Ausrüstung von Polizisten. Über 100.000 Mark will der Verein noch in diesem Jahr der Polizeiwache übergeben, für neue Winterreifen, für schußsichere Westen und für Briefumschläge. „Stellen Sie sich vor“, sagt der Vereinsvorsitzende Irmer, „die Beamten müssen gebrauchte Briefumschläge wieder benutzen!“
Kein Wunder, daß die Ladendiebe in Wetzlar immer frecher werden. Als noch viele Asylbewerber dort wohnten, „traute sich kein Ladenbesitzer mehr, seine Waren auf die Straße zu stellen“, erinnert sich IHK-Neumann, und deshalb war es für ihn gar nicht sonderlich überraschend, daß er bei der Vereinsgründung vor wenigen Wochen „überrollt wurde“. Jedenfalls reichten an diesem Abend die hundert Stühle nicht aus, die Neumann im Saal der IHK aufstellen ließ.
Sicherheit ist auch in Wetzlar in erster Linie nur ein Gefühl, oder, wie Neumann sagt: „Sicherheit ist ein weicher Standortfaktor.“ Tatsächlich nimmt Wetzlar in der Polizeistatistik des Landes Hessen einen mittleren Platz ein. In den beiden letzten Jahren keine besonderen Auffälligkeiten. Eine Schießerei im Bordell, Wohnungseinbrüche, ein Tankstellenüberfall – Alltag in Deutschland.
Es war nicht einmal Wahlkampfzeit, als Hans-Jürgen Irmer nach einem Abend mit „einem guten Freund von der Polizei“ auf die Idee kam, in Wetzlar die Sicherheit neu zu erfinden. Sein Spezl hatte ihm wieder einmal sein Leid geklagt, daß es auf dem Revier an allem mangele. Kürzlich habe die Mutter einer jungen Polizistin für ihre Tochter eine schußsichere Weste gekauft. Preis: 1.700 Mark. Da entschloß sich Irmer, nicht länger tatenlos zuzusehen, wie „die Verbrecher aufrüsten und die Polizei hinterherhinkt“. Sein Aufruf an die „heimische Presse“ zur Gründung eines Polizeihilfsvereins fand ein solches Echo, daß selbst die Wetzlarer Sozialdemokraten sich beeilten, bei der Wahl zum Vorstand des Vereins dabeizusein.
Diesem Gefühlsdruck konnte in Wetzlar offensichtlich niemand widerstehen. Wer etwas auf sich hält, ist Mitglied im Verein. Niemand will sich nachsagen lassen, er täte nichts für seine Polizei. 200 Mitglieder werde der Verein bis Jahresende haben, prophezeit Irmer. Bei der Wetzlarer Zeitung überlegt man schon, die diesjährige „Weihnachts-Aktion“ der Polizei zu widmen. Im vergangenen Jahr spendeten die Leser 250.000 Mark für eine Herzstation. „Die Leute zahlen doch lieber 100 Mark an den Verein als 30.000 Mark für eine Alarmanlage“, sagt IHK-Neumann.
Wie schlecht es um die Ausrüstung der Beamten in Wetzlar tatsächlich bestellt ist, erfährt man auf der Polizeidirektion nicht weit von der IHK entfernt. „Eigentlich haben wir alles, was wir brauchen“, sagt der stellvertretende Leiter Werner Bursig. Gut, die versprochenen Computer sind noch nicht alle da, und auch an schußsicheren Westen fehlt es noch, aber an einen Fall, wo ein Ganove nur deswegen entwischte, weil die Polizei kein Handy dabei oder aber die falschen Reifen aufgezogen hatte, kann auch er sich nicht erinnern. Erst als Bursig außer Hörweite ist, wird Polizeihauptmeister Kurt Pietsch etwas vertraulicher: Er zeigt auf den Ständer mit Stabtaschenlampen: „Oft sind die Batterien leer, und wir laufen nachts nur mit Funzeln durch die Gegend. Zack – hat man eine über die Rübe.“
Hat er dennoch mal einen Strolch verhaftet, tippt Pietsch sein Protokoll auf einer mechanischen Schreibmaschine Marke Olympia in das Berichtsformular. Daneben steht zwar eine elektrische Maschine, doch die wird meist nur von jungen Kollegen benutzt. Den älteren Polizisten ist das Gerät zu modern – da stimmt der Zeilenabstand nie, ist das Korrekturband wieder einmal zu Ende, oder „sie hauen mit ihren Wurstfingern ständig daneben“ (Bursig). Sonst noch irgendwelche Klagen? Nein. Polizeihauptmeister Pietsch ist zufrieden, weil Hessen als eines der wenigen Bundesländer die „zweigeteilte Laufbahn“ für Polizisten einführte und er nun das Gehalt eines Kommissars erhält.
Ein Unternehmer aus Wetzlar wollte vor kurzem dem Revier Faxgeräte und Handys spenden. Die Übergabe sollte vor der örtlichen Presse geschehen – zum Segen aller Beteiligten. Daraus wurde nur deshalb nichts, weil das hessische Innenministerium die Spende untersagte. Geschenke, deren Wert 150 Mark überschreiten, müssen laut hessischem „Korruptionserlaß“ vom Ministerium genehmigt werden. „Stellen Sie sich vor“, sagt Pressesprecher Kurt Meier vom Polizeipräsidium in Gießen, „der Unternehmer kommt in eine Alkoholkontrolle und sagt: ,Aber ich habe euch doch die schönen Handys gespendet...‘“ Aus diesem Grund kommt für Innenminister Gerhard Bökel (SPD) eine „materielle Zuwendung“ an die Polizei nicht in Frage. Auch nicht durch einen Verein.
Hans-Jürgen Irmer versteht das nicht. Jede Schule darf sich die Klassenfahrten von den Eltern sponsern lassen, jeder Kindergarten nimmt Spielzeugspenden entgegen. Warum also sollte sich die Polizei nicht auch helfen lassen? Selbstverständlich möchten die Vereinsmitglieder von „Pro Polizei“ mit ihrem Geld „ihre“ Polizeistation aufrüsten – nicht irgendeine. Allein dieser Gedanke aber macht den Polizeipräsidenten von Gießen ratlos: Was soll er seinen Beamten in Butzbach denn sagen, weshalb nur in Wetzlar jeder Polizist über eine schußsichere Weste und frische Batterien verfügt?
Ganz neu sind solche Bestrebungen wie die in Wetzlar nicht: In Großhansdorf bei Hamburg sammelten 120 Mitglieder des Vereins „Mehr Sicherheit für Großhansdorf“ Geld für die Ausstattung ihrer Polizeiwache. Es reichte immerhin für ein Faxgerät, einen Anrufbeantworter und zwei Fahrräder. Doch die Hoffnung, damit auch „mehr Sicherheit“ erkauft zu haben, trog bislang: Der Anrufbeantworter ist nicht angeschlossen, und die Fahrräder stehen ungenutzt im Keller.
Nichts davon war vorher von den Polizisten bestellt worden. Doch was ihre Schutzleute brauchen, glauben die Großhansdorfer sowieso besser zu wissen. „Auf den Anrufbeantworter“, sagt der Vereinsvorsitzende Carl-Dietrich Felber, „könnten wir nachts unsere Beobachtungen draufsprechen, und mit den Fahrrädern könnten die Polizisten durchs Wohngebiet Streife fahren.“ Genau davor aber fürchten sich die Beamten: mit Bagatellen belästigt und zum Radeln verdammt.
Weil ihre Polizisten nicht mehr durchs Dorf patrouillierten, organisierten die Bewohner in jenem Dorf bei Hamburg vor drei Jahren einen eigenen Streifendienst, der Tag und Nacht ein Auge auf verdächtige Personen wirft. „Wenn wir abends ein parkendes Auto mit drei dunkelhaarigen Männern sehen, melden wir das“, sagt Felber.
Dreitausend Streifengänge zählte Felber im vergangenen Jahr, bei 48 Wohnungseinbrüchen: gegenüber den 86 Aufbrüchen noch vor drei Jahren durchaus ein Erfolg. Den schreibt Felber vor allem der medialen Aufmerksamkeit zu, den das Selbsthilfeprojekt in Großhansdorf erregte: „Auch organisierte Verbrecher lesen Zeitung.“
In Bayern läßt sich der Freistaat die Bürgerwachen sogar etwas kosten. Eine halbe Million Mark sind im Haushalt für dieses Jahr vorgesehen, um 115 „Sicherheitswachtangehörige“ in achtzehn Städten zu entlohnen. Die laut bayerischem Innenminister Günther Beckstein (CSU) „hochmotivierten“ Mitarbeiter sollen durch ihre Spaziergänge im Wohnviertel das „subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger verbessern“. Die meßbaren Erfolge klingen dagegen eher amüsant: In München beobachteten die Polizei-Hiwis in einem Schwabinger Hinterhof drei Jugendliche beim Haschischrauchen.
In anderen Bundesländern lehnt man die Übertragung von klassischen Polizeiaufgaben an freiwillige Helfer ab. Zu sehr befürchtet man die Risiken einer ernsthaften Konfrontation mit Straftätern. Dafür schätzt man auf allen Polizeidirektionen die Mitarbeit von Bürgern bei der Prävention: Aufklärung über Drogen oder Diebstahlsicherung tritt die Polizei gern an Vereine ab, deren Gründung nicht selten von der Polizei selbst betrieben wird. „Wir brauchen die ideelle Unterstützung“, sagt Polizeisprecher Kurt Maier, „nicht die materielle. Wenn in Wetzlar Geld für ein Jugendhaus gesammelt würde, in dem sich die arbeitslosen jungen Türken treffen könnten, wäre mehr geholfen als mit Winterreifen für die Polizeiautos.“
Doch dafür hat Irmer seinen Verein nicht gegründet. Er will „der hessischen Landesregierung Druck machen“, denn wenn sich erst im ganzen Land ähnliche Vereine gegründet haben, „dann können die das nicht mehr ignorieren“, schwärmt er – und die CDU hätte ein Thema besetzt, das Stimmen sichert. Den Zusatz aber verschweigt Irmer, man kann ihn nur zwischen seinen Augen lesen...
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