■ Querspalte: Tabu verzweifelt gesucht
Das Tabu ist, wie Sie vielleicht wissen, vom Aussterben bedroht. Vor noch nicht allzu langer Zeit, um 1968 herum, kam es noch rudelweise in bürgerlichen Kreisen vor und verhalf dem linksalternativen Tabubrecher (siehe auch: Teufel, Fritz) zu manch schönem Jagderfolg. In den Neunzigern aber ist kaum noch ein brauchbares Tabu mehr gesichtet worden. Um es mal so zu sagen: Dem Buckelwal geht es im Vergleich zum Tabu ausgesprochen klasse. Über Sex reden heutzutage schon die Viertkläßler in einem Ton, der jedem reifen Menschen die Schamröte ins Gesicht treibt, und wer gelegentlich Talkshows im TV anschaut, der wünscht so manchem Zeitgenossen dort ein handfestes Tabu an den Hals. So hocken die Tabubrecher von gestern heute arbeitslos zu Hause und kommen sich dabei so überflüssig vor, wie sie es halt auch sind. (Dialektische Sache, das.)
Alle? Nein, nicht alle. Die kleine Kulturredaktion der kleinen taz hat am Samstag ein großes Tabu entdeckt und per Blattschuß zur Stecke gebracht: die Atlanta-Kritiker. Denn das schöne Olympiafest ist von einem Kartell von Miesmachern bedroht, die, bislang unerkannt, in der Süddeutschen Zeitung und der taz- Sportredaktion ihr finsteres antiamerikanisches Geschäft betreiben. Dort versuchen sie durch stete Berichte über Doping, Attentat, mafiotische NOKs und Kommerzialisierung dem arglosen Publikum ein schlechtes Gewissen einzureden. Schluß damit! Die taz-Kultur rät: Füße hoch, Glotze an und die Welt in Ordnung finden!
So wollen wir es in Zukunft halten. Denken wir also froh an unseren NOK- Chef, den rührigen Walther Tröger, der seine Begründung, warum die Spiele auch nach dem Attentat weitergehen müßten, mit den bedenkenswerten Worten einleitete: „Ich und die Pietät sind der Meinung...“ Schließen wir auch den Gewichtheber Manfred Nerlinger in unser Herz und Gebet mit ein. Loben wir die Weisheit des IOC-Kollektivs. Kommerz ist dufte. Darauf eine Coke. Stefan Reinecke
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen