Wühltisch: Die Milch, die Kunst, der Senf
■ Über Trinkgefäße oder Aufstieg und Niedergang eines Werbetricks
In den ersten Semestern meines Studiums habe ich mich zu einem eifrigen Senfesser entwickelt. Das Zeug macht dumm, hatte es in meiner Kindheit immer geheißen, aber mein Begehr galt weniger dem Inhalt als den Gefäßen, in denen die scharfe, gelbliche Würzcreme angeboten wurde. Noch heute esse ich Bratwurst lieber mit Ketchup als mit Senf. Weit davon entfernt, mit dem Geschirrschrank Distinktionsgewinne zu erzielen, komplettierten die Senfgläser das aus den verschiedenen Kneipen zusammengeklaute Sortiment an Trinkgefäßen. Those were the days.
Die Marsberger Glaswerke Ritzenhoff schicken sich seit ein paar Jahren an, mit solch geschmäcklerischer Unart aufzuräumen. 1992 kam das erste Milchglas von Volker Albus auf den Markt. Es war blau und brachte, wenn Milch drin war, in weißer Schrift das Wort MILK zum Vorschein. Jasper Morrison hatte später den Einfall, Milch, Leche, Milk, Latte, Melk und Lait draufzuschreiben sowie als graphische Brechung japanische Schriftzeichen als Kunst auszugeben. Hübsch anzusehen sind einige Zeichnungen, bei denen Kühe eine Rolle spielen, während das Kunstindividuum respektive die KünstlerInnengruppe „Kunstflug“ ein Märchen vom Milchfisch in Wort und Bild fabriziert hat. Weil es keine Kunst ist, Milchgläser zu bedrucken, hat die Firma Ritzenhoff verfügt, das Sortiment zu begrenzen. „Zweimal im Jahr gibt es fünf neue Gläser“, heißt es im Prospekt. „Da die Gesamtkollektion auf vierzig Gläser begrenzt ist, werden gleichzeitig fünf andere Motive herausgenommen. Zusätzlich gibt es zwei limitierte Editionen jährlich.“
Das trägt der Erfahrung Rechnung, daß wahre Kunst sich eher selten ereignet. Oder, um es mit Hegel zu sagen, nach ihrem höchsten Wesen bereits Vergangenes ist. Vor traurigem fading bewahrt eine Mitgliedschaft im Ritzenhoff-Milk-Club und verhilft in nachhegelianischen Zeiten noch einmal zu lebendigem Kunsterleben: „Als einfaches, industriell gefertigtes Glas aufgelegt, ist dieses multiple Gebrauchskunst für den Alltag – für den Schluck Milch zum Frühstück.“ So entstand auf den Gläsern die erschwinglichste Kunstsammlung der Welt, mit Werken aller Stile von Alchimia bis zum Nodesign, von der Pop-art bis zur Postmoderne. „Wie kann etwas ein Kunstwerk sein und etwas anderes, was ihm genau gleicht, nicht?“ hat beizeiten der amerikanische Philosoph Arthur C. Dante gefragt und damit mein Problem mit den Senfgläsern zwar berührt, aber die Frage unbeantwortet gelassen, warum sich das Milchglas besser zur Kunstwerdung eignet als das Senfglas. Es ist denkbar, O.M. Ungers Idee, das Milchglas als Meßbecher zu entwerfen (in der Ritzenhoff-Serie Nummer 44), auch auf das Senfglas anzuwenden.
Aber schon die Vorstellung von 250 ccm Senf beim genüßlichen Leeren eines Glases Milch verstört den Kunstfreund. Übermäßiger Genuß kalter Milch hat bei mir immer durchschlagende Wirkung. Daher rührt auch meine Vermutung, daß aus der Geschichte mit dem Senfglas nie so recht was werden konnte. Der anale Charakter des Senfs beeinträchtigt den Sublimationsvorgang. Schon in Ovids „Metamorphosen“ heißt es: „Ströme von Milch nun wallten daher ... und von der grünenden Eiche troff endlos der gelbliche (!) Honig.“ Nirgends von Senf die Rede. Wer Senfgläser sammelt, so mein Verdacht, erweist sich letztlich als zwanghafter, analer Charakter. Seither trinken wir aus unseren Ritzenhoffs Vernaccia di San Gimignano. Harry Nutt
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