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Das Chaos läßt sich nicht berechnen!

■ betr.: Berichterstattung zu den „Chaos-Tagen“

[...] Ich finde die Handlungsunfähigkeit der Bremer Regierung und das Verhalten der Polizei beinahe unglaublich. Daß sich so was in einer der progressivsten Städten Deutschlands ereignen konnte, gibt einem einen ziemlich schweren Schock! Alle Bunthaarigen aus der Stadt treiben? Das kommt mir ungefähr so vor, wie das Stereotyp von Skinheads – eine Glatze, eine Bomberjacke und Stiefel. Man sollte ja etwas klüger sein. Die Gefährlichsten in einer Gesellschaft sind meistens nach außen eher konservativ aussehend. Man nehme die Leiter der Rechts- bzw. Linksextremen als Beispiel: Die Mehrzahl ändert die Farbe der Haare nicht, tragen keine auffälligen Jacken, und ziehen sich morgens keine Stiefel an. Sicherheit sei ja verdammt – man darf die Grundrechte von anderen deswegen nicht zertrampeln! Ich danke für diese Gelegenheit, meine Meinung loszuwerden, per E-MailMichael Carlson, Salt Lake City

Als Anwohnerin des Bremer Schauplatzes hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, drei Nächte lang eine Hundertschaft (und den beigeordneten Sat.1-Ü-Wagen) vor meinem Fensterchen campieren zu sehen ... Die Kollegen hatten augenscheinlich auch nicht viel Freude an ihrem Einsatz. Dennoch mußten selbst minder jugendliche AnwohnerInnen mit „minder punkem“ Aussehen (ein Flicken auf der Hose) bei jedem Gang zum Bäcker gleich mehrfach den Perso zücken. Mein bevorzugter Logenplatz ließ mich weiterhin (schon die ganze Woche) eine Vielzahl von Verhaftungen beobachten, und die Erkenntnis wollte keimen, daß Punk nicht mehr das ist, was er mal war: Milchgesichter mit Baseballkäppies wurden ebenso rüde abgegriffen wie kleine Mädchen in zu großen Hosen. All das wurde begierig ausgeleuchtet und gefilmt von den rudelweise aufgefahrenen Fernsehteams.

Die Nächte der „Ausschreitungen“ gestalteten sich zunächst völlig normal. In unserer Straße mit Kneipenzeile findet häufig sommernächtliches Draußen-Gezeche statt – diesmal waren es halt ein paar Leute mehr, darunter viele Schaulustige. Ein paar Dosen flogen, als irgendein Idiot mit dem Auto in die promenierende Menge raste, doch war dieses der Grund für die martialische Räumung der Kreuzung mit „Knüppel frei“.

Und hinterher? Auf n-tv konnte ich mich erstaunt über „Terror und Randale“ vor meiner Hütte unterrichten lassen, die ich selbst nicht bemerkt hatte. Und die Polizei- funktionäre frohlocken in den Interviews: Mit irrwitzigem Aufwand haben sie verhindert, was gar nicht stattgefunden hätte, ohne ein von der Politik verordnetes Bürgerkriegsszenario. Die „Chaostage“ wurden herbeigeredet von einer Journaille, die verzweifelt im Sommerloch stocherte und dabei auf diesen albernen Internet-Spaß zur Presse-Verarsche gestoßen waren. Die Medien schaffen sich selbst eine Realität, über die sie berichten. Und nachher freut sich der kleine Iro, wenn er 100 Mark kriegt, damit er mal eine Flasche schmeißt (so passiert letztes Jahr bei den Oldenburger „Chaostagen“!) Wenn nix passiert, gibt's ja keine Schlagzeile, keine Spesen ...

Auch die taz hat sich nicht entblödet, mit „Straßenschlacht“ zu titeln, während dieselbe Autorin im Lokalteil doch einen sachlicheren Aufsatz abgeliefert hatte. Die sensationsgeile Berichterstattung rechtfertigt die Maßnahmen. Und so wird verboten, was sich in der „freien“ Hansestadt sonst gut verträgt, die Freiheit des Andersfrisierten, Biertrinken am Deich, gute Nachbarschaft zwischen Boutiquenbesitzern und Punks oder einfach überhaupt nur Jugendlicher zu sein? Unser CDU- Innensenator hat es verstanden, den Absatz von Haarfärbemitteln jetzt erst richtig anzukurbeln und den punken Zorn in junge Herzen zu tragen. Wir wollen ihn künftig „Malcolm McBortscheller“ nennen! Punk ist tot. Es lebe Cyber- Punk in der virtuellen Mentalität der alten Säcke! Tante Nancy Viscose, Bremen

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