Der Vordenker Japans ist tot

■ Der Politologe Masao Maruyama gab den Intellektuellen seines Landes eine gemeinsame Sprache

Tokio (taz) – Fünf Tage lang hatten seine Angehörigen den Tod geheimgehalten. Gestern abend widmeten dann alle großen japanischen Zeitungen Masao Maruyama ein letztes Mal ihre Titelseiten. Für einen 82jährigen, der seit 1971 nicht mehr öffentlich aufgetreten war, ist das nicht selbstverständlich. Doch der emeritierte Politikprofessor der Tokioter Universität, den die Germanophilen mit Adorno und die Frankophilen mit Sartre verglichen, bewegte immer noch die Geister.

„Für Maruyama war der verlorene Krieg der Ausgangspunkt“, schreibt die konservative Tageszeitung Yomiuri in ihrem gestrigen Nachruf auf den liberalen Intellektuellen. Yomiuri gesteht dem alten ideologischen Gegner zu, mit seiner „erbarmungslosen Kritik der Vorkriegsordnung“ den Jugendlichen nach dem Krieg Hoffnung gegeben zu haben, kritisiert ihn jedoch, weil er unter den Älteren für Verwirrung gesorgt habe. „Japan hatte sich selbst zerstört“, erinnert Yomiuri. „Aber man wollte zuerst der Opfer des Krieges gedenken, bevor man Selbstkritik übte.“ Die Essenz der japanischen Faschismusverdrängung so klar zu formulieren, gelingt auch Yomiuri nur im Gedenken an Maruyama. Es spricht für die außergewöhnliche Stellung von Japans berühmtesten Politologen, daß noch sein Tod Streit auslöst. Gewöhnlich haben öffentliche Nachrufe in Japan den Charakter von Lobeshymnen.

Masao Maruyama starb bereits am 15. August, dem 51. Jahrestag der Befreiung Japans vom Ultranationalismus – wie er dieses Datum bezeichnen würde. Seine programmatische Schrift „Logik und Psyche des japanischen Ultranationalismus“ erschien im Mai 1946 in der Zeitschrift Sekai. Darin gelang es Maruyama, mit den Methoden der westlichen Politologie und Gesellschaftskritik ein neues Erklärungbild des japanischen Kaiserstaats zu liefern. Für seine Zeitgenossen überraschend, führte er Nippons Kriegsniederlage nicht auf Einzeltäter, sondern auf ordinäre Menschen zurück: „Weder ein abstraktes Rechtsbewußtsein noch ein religiöses Sündenbewußtsein, noch die Idee des Dienstes am Volk bestimmte die alltägliche Moral der herrschenden Schichten, sondern jenes konkret-sinnliche Vertrautheitsgefühl gegenüber dem Tenno“, schrieb Maruyama über die Täter der japanischen Völkermorde. Geleitet vom Begriff der Menschenwürde stellte er als Ursache der alten Mißstände fest: „Es ist in unserem Land noch niemals vorgekommen, daß das Private schlicht als solches anerkannt worden wäre.“

Solches Freidenkertum wirkte im Japan nach dem Krieg für eine ganze Generation ansteckend. „Erst Murayama hat Japans Intellektuellen eine gemeinsame Sprache gegeben“, kommentiert der Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe Maruyamas Tod. Der Politologe Kaoru Okano sieht Maruyamas Verdienst darin, „erstmals eine klare Theorie der japanischen Gesellschaft verfaßt zu haben, die nicht auf westlichen Übersetzungen beruhte.“ Die liberale Tageszeitung Asahi lobt ihn als „größten Denker der Nachkriegszeit“.

Doch warum zog sich Maruyama seit 1971 völlig ins Private zurück und schrieb nur gelegentlich noch Geschichtsbücher? Auch seine letzte öffentlich bekanntgewordene Äußerung klärt das nicht. Nach den Anschlägen der Guru- gläubigen Aum-Sekte sagte Maruyama: „Zu meiner Jugendzeit war ganz Japan wie Aum.“ Es fragt sich, ob er die Aum-Verrückten für typische Japaner hielt. Georg Blume