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Der taz-Sommerroman: "Dumm gelaufen" - Teil 36

Und die Menschen suchten ihn; verwahrloste Kinder, kleine klauende Taschenkrebse, die ihm New York, New York kamen, ihm welcome Hüfte, Brust und Arsch abklopften. Und überhaupt die people: All die netten, neuen und gebildeten Obdachlosen, mit Schlips und Kragen, sprachen Schmock Zoten und sonst dem Rotwein zu. Und wenn man über eine leere Bierdose strich, stieg selbstverständlich ein Penner mit offenen Händen vor einem auf. Diese Penner hatten dann immer drei Wünsche frei. Wermut, Zigaretten und 'ne Mark. Natürlich, ohne Gewähr. Das waren die Storys, die niemand glaubte. Denn sie waren unglaublich. Mythen in Tüten aus St. Georg. People are people, halt! Das war Harlem in St. Georg. Schwarze Straßendealer mit Uzis unter den Jacken versprachen Schmock einen Stoff fürs Leben. Einer spuckte sein Sortiment durch eine Zahnlücke in seine Hände, und seine glücklichen Kunden westen überall noch in den Straßen. Ein perfekter Einkaufsspaß für die ganze Familie rund um die Uhr und rund um den Hansaplatz. Und mundrum gingen Intrigen, Mädchen von nebenan. Auf. Und ab. Mit Preisen wie vom Nachbarn. Und preiswerte und schnelle Nachbarn für alle anfallenden Reparatur- und Elektroarbeiten boten sich Schmock an. Und immer Blaulicht. Immer Curry in der Luft. Immer frische Pisse in den Ecken. Immer mal wieder ein brennender Penner. Immer Spritzen in den Venen. Und Brauns an allen Ecken. Eben das war St. Georg: Leben in St. Georg. Die Lange Reihe. Eine Straße in Hamburg mit dem Leben einer ganzen Stadt. Schmock starrte auf die 2-Zi.-Whg., HH 1, Altbau, Vbad, Küche, Diele, Balk., tolle Lage, Lange Reihe, 54,5 qm, Kt. DM 2046,-. Das hatten ihm die Teamassistentin aus dem Sekretariat vom Wohnungsbauunternehmen verraten. Auch das Alter von Poller; er war ein Greis. Und der Plan von Schmock. Die Gardinen der Wohnung gelbten seit Jahren über diesem Café: Gnosa Eines für die, vom anderen Ufer. Und immer war dieses Gesicht hinter dem Gelb der Gardinen. Die Zeit ging wuop-wuop. Nicht leicht, locker und würzig. Mehr als nur Stunden. Vermutlich ein Leben schon lang. Die Blicke von Poller waren Blitzlichter. Die Augen fotografierten. Sie nahmen einen Moment im Leben der Langen Reihe auf und entwickelten ihn in diesem Gesicht, in dem sie steckten. Schmock fotografierte auch mit den Augen. Immer Stücke von Frauen. Ein Stück Arsch. Eine halbe Titte im Ausschnitt. Einen Winkel vom Schritt. Aber Blicke fing sich Schmock niemals ein, geschweige denn ganze Gesichter. Schließlich konnte und wollte Schmock den Frauen beim Wichsen nicht in die Augen schauen. Ein Klingeln. Ein Klopfen. Ein Knarren der Tür. Poller hatte ihn durch den Türspion kommen sehen, vermutete Schmock. Dieser Poller war ein 4711-Fall. Oder Old Spice. Mindestens Tabac. Er roch schon Grab, sehr Grab. Schmock erhob eine statistische, soziologische Erwägung über Pollers derzeitigen Lebensraum: vom Bad zum Bäcker zur Bank. Von der Bank zu einem Bier, dann zum Bett. Mehr als fünfhundert Meter schaffte der Alte nicht. Sein Atem rettete sich von Satz zu Satz.

(Fortsetzung folgt)

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