■ In der Debatte um Sex mit Kindern vernebeln Zynismus und wohlfeile Moral den Blick auf ein komplexes Problem: Schema F und Kindchenschema
Spektakuläre Gewaltphänomene, wie sie im Medienereignisrhythmus erscheinen und wieder verschwinden, offenbaren immer wieder des Gedankens Blässe. So anläßlich des Stockholmer Kongresses und der Kindermorde in Belgien, die mit der organisierten Pornokriminalität verbunden sind. Die Reflexion beginnt beim Einzelfall, umschweift dann die irremachende Komplexität der Sache (Trieb – Pädophilie – Kindesmißbrauch – Pornovideo – Sextourismus – koloniale Ausbeutung – Prostitution – Flüchtlingselend – Kinderhandel etc.) und kehrt frustriert-fatalistisch ins heimische Kinderzimmer zurück. Dabei besteht die rationale Aufgabe darin, die Sache „kühl“ zu betrachten und eine sinnvolle Haltung zu gewinnen.
Statt dessen wird man mit Meinungen bedient, die die Sache vernebeln. Die Kommentatoren teilen sich in notorisch „Betroffene“ und „Coole“; dabei verschwimmen die Kriterien zur Unterscheidung von massenhaftem privatem Elend (Kindesmißbrauch) und organisiertem Verbrechen (Kinderhandel und Kinderpornomarkt). Ein verwandtes Beispiel war vor wenigen Jahren das Thema Kinder- und Jugendgewalt; „Kernfall“ war die Ermordung eines Kleinkindes durch zwei Elfjährige in Liverpool. Mein Versuch, den Motivhintergrund solcher Taten zu reflektieren, führte zu einem Aufschrei guter Gesinnung in der Zeit: Ich nähme „den Opfern noch im Sterben die eigene Würde“. Zugleich druckte der Spiegel einen Rundschlag von Cora Stephan, die das Phänomen bagatellisierte – getreu ihrer Anti-Betroffenheits-Attitüde (von der zu hoffen ist, daß sie so kurzlebig ist wie das Betroffenheitsblabla selbst).
In dieser Debatte geschieht das nämlich. Micha Hilgers lamentiert in der taz in peinlicher (Selbst-)Geißelungsmanier über alles, alles Böse, was mit Kindersex zusammenhängt, Katharina Rutschky übt sich in umgekehrtem Gesinnungsterror. Flache Zahlenrhetorik, Kinkerlitzchen gegen Kinder-Kinkel, etwas Schulterzucken und Schlammspritzen gegen jedes Engagement ergeben eine blöde Provokation vom Zeitgeist- Grabbeltisch, die Frau R.s verdienstvolle Einwände gegen den Mißbrauch des (Kindes-)Mißbrauchs im nachhinein als Masche desavouiert.
Wir können also wählen nach Schema F: zwischen triefendem Moralismus und trendy Billigzynismus. Ich habe allerdings den Verdacht, daß gerade diese Haltungen zur Sache selbst dazugehören. Sie gehorchen einem Schwarzweißschema: Opfermentalität hier, indifferenter „Täterhumanismus“ da. Die einen kommen ohne das infantile Märchenschema Gut-Böse nicht aus; die andern verzichten abgeklärt auf jedes eingreifende moralische Urteil. Das wohlfeile Entsetzen à la Hilgers findet seine trivialen Entsprechungen im Boulevardjournalismus und am omnipräsenten Stammtisch. Es gehorcht einem ambivalenten Kindchenschema. Der Brustton der Empörung entsteht angesichts der Hilflosigkeit und (moralisch-sexuellen) Unschuld der Kinder.
Genau diese Vorstellung aber liegt der potentiell gewalttätigen Pädophilie zugrunde. Der Wunsch nach „Frische“ und Unschuld (den der Soziologe Alberto Godenzi das „hochgejubelte Gut der Unversehrtheit“ nennt, das Ältere von Kindern via sexueller Ausbeutung „abzapfen“) mündet dort in den Wunsch, das Reine zu beschmutzen, das Unberührte zu berühren, den gegen Verletzungen noch nicht „Abgebrühten“ zu verletzen. Von hier aus reicht das Schema zurück zu denjenigen, die mal wieder die Todesstrafe fordern: nicht allzu fern die Vision, daß die Opfer-Angehörigen mit Befriedigung ein Reality-Video der Hinrichtung von Pornovideoherstellern ansehen.
Qua Gesetz sind Kinder besonders geschützt, weil sie am ehesten als persönlichkeitsloses Material betrachtet und behandelt werden. Als Hemmschwelle gilt ein naturhafter Schutzreflex; wo der fehlt, setzt die Moralisierung ein und bezeichnet Menschen als Monster. Solche primitiven Abspaltungen finden sich schon in der „seriösen“ Fernsehberichterstattung, wenn Undercover-Aufnahmen von Kindersex mit dräuender Musik unterlegt und „harte“ Szenen im Bild zensiert werden. Ästhetisierung und Retuschierung = Exotisierung: Sie verspricht etwas Reizvolles, irgendwie Geiles? Sie bedient und tabuisiert sexuelle Phantasien in einem.
Dieser Abspaltung entspricht auf der Seite des „Täterhumanismus“ eine Abspaltung von Empathie, von Furcht und Mitleid. (Porno-)Täter haben die „Fähigkeit“, ihr gewalttätiges Handeln zu rationalisieren. Müssen deshalb diejenigen, die vor Krokodilstränen, paranoiden Überreaktionen und Lynchimpulsen warnen, in mechanisches Hohngelächter ob der Identifikation mit den Geschundenen und dem Haß auf die Folterer verfallen?
Gesucht ist eine Haltung, die in Gewaltfragen rational bleibt, ohne auf die schlichte, explizite Unterscheidung zwischen Leiden und gutem Leben zu verzichten. Da jeder weiß, daß ihn oft nur die internalisierten zivilisierten Grenzen davor schützen, gewalttätig zu werden, so muß er auch für die Durchsetzung solcher Grenzen eintreten. Das heißt unter anderem: für konsequente Strafverfolgung und -anwendung bei Gewalttaten, vor allem organisierten, dieser Art. Und da jeder weiß, daß er zu manchen lustvollen Schandtaten bereit sein könnte, sollte er entsprechend über die Konsumenten nachdenken, die gerade durch Verbot „heiß“ und vor allem zahlungsbereit werden. Die Exotisierung pädophiler Phantasien führt in die Sackgasse. Denn solche gibt es, und sie werden um so perverser und gefährlicher im kriminellen Sinn, je mehr sie verleugnet werden. Daß dies nicht sein muß, kann jeder Leser des Romans „Lolita“ von Nabokov erfahren – per se eine Ästhetisierung, aber nicht die dumpf-unwillkürliche unserer Medien, sondern die unerbittliche Offenlegung aller Ambivalenzen im Falle des Mißbrauchs einer Zwölfjährigen durch einen Enddreißiger. Das Buch sei den Profimoralisten und den Profizynikern zwecks Erwerb einer differenzierten Haltung dringend zur Lektüre empfohlen.
Dorothea Dieckmann
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