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Schere ins Reich der Sinne

■ Eine Ausstellung zeigt „Falschgesichter“ im Westwerk

Werden jeweils die rechte und linke Gesichtshälfte zu neuen symmetrischen Porträts gespiegelt, erscheinen bekannte Personen in neuem Licht. Schon seit den 20er Jahren ist diese gut zu mißbrauchende Physiognomieforschung mehr als ein Gag. Auch das Gehirn hat zwei unterschiedlich beschäftigte Hälften, so kann man in den verschiedenen Gesichtshälften auch zwei entscheidende Triebkräfte ausgedrückt sehen: der Mensch als halb rationales Tagwesen und halb dunkles Sinnentier.

Solche Reflexion auf die sichtbaren Ausprägungen der Neurophysiologie betreibt der Hamburger Michael Heinrich. Im Westwerk breitet er sein Material jetzt aus. Eine große Wand zeigt die vertauschten Fotohälften von Gesichtern. Dazu bietet der Künstler einen „Rechts-Links-Porträtservice“ an, bei dem BesucherInnen abgelichtet werden; die bearbeiteten Gesichter werden ihnen dann zugesandt.

Mit der Ausstellung hat Michael Heinrich, der hauptsächlich Filmemacher ist, eine Umgebung installiert, die auf die Videopräsentation seines Filmes Falschgesichter hinführt, ein Baustein des größeren Projekts Neues aus dem Reich der Sinne, das sich mit Rezeption des öffentlichen Gesichts befaßt. Nach dem Film Der Herostrat von 1990 über die Nasensammlung eines amerikanischen Präsidentenattentäters, der bereits erfolgreich für Verwirrung gesorgt hat, und einer Ausstellung einer in vierzig Variationen überarbeiteten medizinischen Zeichnung des 16. Jahrhunderts steht noch im Herbst die Premiere eines neuen Films bevor. Der unverrückbare Ort befaßt sich mit der merkwürdigen, gleichwohl als Glaubensgewißheit gehandelten „Fleischwerdung des gesprochenen Wortes“ als die die jungfräuliche Empfängnis Marias durch das Ohr traditionell verstanden wird.

Aber so wie die bisherigen Filme eigentlich von Fotografie handelten, handelt dieser neue letztlich von Malerei. Denn die Dokumentarfilme von Michael Heinrich erweisen sich am Ende in sanfter ironischer Brechung als Fiktionen. Es bleibt erstaunlich genug zu sehen, wie die scheinbar so sachliche Wissenschaft immer wieder eher ornamentale Schönheitskonzepte als Realitätsbild zu finden versucht, seien es Symmetrien oder Fraktale.

Michael Heinrich setzt der ausführlich und logisch begründbaren Links-Rechts-Spiegelung in einer Ecke der Falschgesichter- Ausstellung und am Ende des Films seine, formal ebenso logische, horizontale Spiegelung von oben und unten entgegen: Nun blicken uns in der wissenschaftlichen Giftküche keine Jekylls und Mr. Hydes mehr an, sondern reine Augen- oder Mundgesichter. Gemäß dem Forschungsansatz „Neues aus dem Bereich der Sinne“ erkennen wir die stärker vom Sprechen bestimmten Mund-Menschen leicht als Poeten und die Vieräugigen als stärker vom Sehen bestimmte Künstler. Und wir durchschauen, daß alle Wissenschaft ein großer Zauberkasten ist, genau wie die Kunst. Hajo Schiff

Westwerk, Admiralitätstr. 74, tägl. 16-19 Uhr, bis 8. September

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