Beschleunigung und Wachstum: Zu nichts mehr kommen

Es ist nicht nur die Umwelt, die Menschen an das wirtschaftliche Wachstum verkaufen. Sie verkaufen auch sich selbst.

Menschen während der Rushhour in London. Bild: dpa

DEUTSCHLAND zeo2 | Als 2004 Forscher das beliebte Antidepressivum Prozac im britischen Grundwasser nachweisen konnten, war man dann doch überrascht. Dass die Zahl der verschriebenen Antidepressiva in Großbritannien zwischen 1991 und 2001 von neun Millionen auf 24 Millionen stieg, erklärt das Auftreten vom Prozac im Grundwasser oberflächlich. Was die steigende Einnahme von Antidepressiva eigentlich bedeutet, steht auf einem anderen Blatt.

Auch Psychotherapeuten in Deutschland beobachten, dass immer mehr Menschen zu ihnen kommen, die leiden. An sich selbst und an der Gesellschaft. Zwei von ihnen sind Benigna Gerisch und Vera King. Beide sind Psychoanalytikerinnen und finden in den Geschichten ihrer Patienten immer wieder Hinweise darauf, dass deren Arbeits- und Lebensbedingungen eine Grundlage bilden, auf die sich psychisches Leiden leicht aufpropfen kann.

Die beiden Analytikerinnen haben sich mit dem Soziologen und Zeitforscher Hartmut Rosa zusammengetan, um auch aus soziologischer Perspektive auf die Krankheitsverläufe zu blicken. Sie beschreiben, wie kurzfristige Arbeitsverträge und Liebesbeziehungen es von uns fordern uns ständig neu zu erfinden und uns durch ständige Auslandsaufenthalte und Praktika möglichst gut zu optimieren.

Die einen erleben das als Herausforderung und wiegen sich in Omnipotenzgefühlen. Man kennt sie. Sie haben schon längst den Bahnbonus.Comfort-Status für Vielfahrer und immer ihre Laptops dabei. Die auf der anderen Seite fühlen sich fremdbestimmt. Sie sind es, die in Psychotherapien den Halt suchen, den ihnen die unendlichen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung nicht geben können.

Die Zeit ist knapp

Wenn heute von Beschleunigung gesprochen wird, meint man, dass in kurzer Zeit mehr erlebt werden kann als früher. Es gibt viel zu tun. Die Zeit ist ständig knapp, obwohl wir eigentlich mehr Zeit haben sollten, da technische Veränderungen Prozesse und Produktinnovationen immer mehr beschleunigen. Auch im Wettbewerb spielt Schnelligkeit eine zentrale Rolle. Die Unternehmen, die sehr stark an Wachstum orientiert sind, fordern Effizienz und Flexibilität von ihren Mitarbeitern, um wettbewerbsfähig zu sein – das ist nichts Neues.

Die „vierte internationale Degrowth-Konferenz für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit“ findet 2. bis 6. September in Leipzig statt. Mehr Informationen unter www.degrowth.de

Vielleicht ist es kein Zufall, dass schon Anfang des 20. Jahrhunderts – in einer Zeit des Wachstums und wirtschaftlichen Aufschwungs – die Depression zuerst wahrgenommen wurde. Für viele Arbeitnehmer heute bedeuten die Ansprüche ihrer Unternehmen ein Agieren am Limit und den Umgang mit einer Dringlichkeit, die alles vorschreibt.

Wo man früher seine Prioritäten nach der Wichtigkeit der Dinge setzte, ist es heute die Dringlichkeit, die uns zu Entscheidungen zwingt. Weniger Zeit bleibt dann für das, was uns vielleicht als wertvoll erscheint, was aber keine sofortigen Verluste bringt, wenn wir es vernachlässigen. Das macht krank, folgert Vera King. Und Hartmut Rosa deutet es so: Aus diesen Zirkeln der Dringlichkeit, in denen wir kreisen, entsteht schließlich das Gefühl, eigentlich zu nichts mehr zu kommen. Paartherapeuten beobachten, dass ein Drittel aller Beziehungs- und Familienkrisen durch die Ausbeutungen auf dem Arbeitsmarkt entstehen. Viele Paare reden nur noch vier Minuten pro Tag miteinander.

Scheinbar selbstgewählt

Ähnlich vermutet der französische Soziologe Alain Ehrenberg, dass Menschen davor kapitulieren, sie Selbst zu werden, weil sie von all den Möglichkeiten überfordert sind, die ihnen offenstehen. Die heutige Verhaltensnorm gründe nicht mehr auf Schuld und Disziplin, sondern auf Verantwortung und Initiative. Der Dringlichkeit nachzugeben, ständig das Smartphone zu bedienen, scheint plötzlich alternativlos. Die Zwänge der Privatwirtschaft werden von vielen Angestellten so sehr verinnerlicht, dass sie zu scheinbar selbstgewählten Prinzipien wie Initiative für den Job werden.

Auf der Degrowth-Konferenz, die im September 2014 in Leipzig stattfindet, werden die Prinzipien, die diesem gesellschaftlichen Wandel zugrunde liegen, in Frage gestellt: Wirtschaftswachstum, muss das sein? Denn es ist nicht nur die Umwelt, die wir an das wirtschaftliche Wachstum verkaufen. Es sind auch wir selbst.

Pia Rauschenberger freie Journalistin und Mitglied der AG Öffentlichkeitsarbeit der Degrowth-Konferenz. Sie macht derzeit ihren Master in Psychologie in Berlin. Den Artikel können Sie gerne auf unserer Facebook-Seite diskutieren.