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Nicht von mir

■ Ernst Deutsch Theater bringt Geschichte des Auschwitz-Prozesses auf die Bühne

Am Anfang ist es nur eine Pyramide von Menschen, die artig auf ihren Bänken sitzen. Die ersten Vernehmungen verlaufen schleppend, keiner der Angeklagten bekennt sich auch nur zu einem einzigen Mord. Stück für Stück quälen die Zeugen dann ihre Erinnerungen hervor. Eine Stenotypistin arbeitete 12 bis 15 Stunden am Tag am Totenbuch. Ihre Aufgabe: für jeden Ermordeten eine falsche Todesursache einzutragen, die dem Alter des Toten entsprochen haben könnte, und darauf zu achten, daß sich die Uhrzeit von zwei Todesfällen nicht überschneidet. Am Ende der Verhandlung steht fest: 25 000 sowjetische Kriegsgefangene wurden in Gaskammern getötet, 30 000 Menschen kamen röchelnd durch Phenolspritzen um, Frauen wurden die Eierstöcke geröngt, bis sie verbrannt waren, Menschen wurden vor der schwarzen Wand erschossen, die Liste der Quälereien nimmt kein Ende.

183 Verhandlungstage dauerte der Auschwitz-Prozeß in Frankfurt, bei dem erstmals viele Einzelheiten der Geschehnisse bekannt wurden. Peter Weiss montierte aus den Aufzeichnungen ein Dokumentationsdrama, Die Ermittlung, das in elf Gesängen stufenweise das Sterben im Lager ans Licht bringt.

Eine Zeugin berichtet, wie ihre Persönlichkeit zunächst ausgelöscht wurde: Vagina und After wurden nach versteckten Wertgegenständen untersucht, ihr Körper mit einer Nummer versehen. „An diesem Punkt hörte unser altes Leben auf“. Die Angeklagten dagegen beteuern unermüdlich: „Dafür war ich gar nicht zuständig“, „Ausgeführt wurden die Quälereien von den Funktionshäftlingen, nicht von mir.“

Eine ganze Gesellschaft lebt hier wieder auf mit einer Spezialsprache, die wir nicht mehr verstehen. Der Richter muß diese Sprache selbst erst einmal lernen, stellt ruhig und unermüdlich dieselben Fragen, etwa: Was bedeutet das, die Karteikarten wurden „verarbeitet“? Es bedeutet: 30 000 Menschen wurden mit Phenolspritzen getötet.

In der Inszenierung von Günther Fleckenstein schaffen Filmszenen den Übergang zwischen den Gesängen: Die Zäune, die Leichenberge, das ungeheure Ausmaß des Lagers aus der Vogelperspektive, die kilometerweit sich erstreckenden Baracken - während dieser Verhandlung erhalten diese bekannten Bilder neue Bedeutung. Die sich motivisch wiederholende minimalistische Synthi-Musik (Erik Tass) bricht die Bilder nicht, sondern unterstützt.

Immer deutlicher steht im Verlauf der Handlung Aussage gegen Aussage, immer tiefer wird der Graben zwischen der Welt der Täter und der Welt der Opfer. Glauben wir den Zeugen? Oder glauben wir der heilen, sauberen Welt der Schergen, die über die Anschuldigungen nur kurz auflachen oder ungehalten werden – und keine Auskunft mehr erteilen? Der Schrecken ist präsent, wenn die Mörder in Krawatte ihre Zoten reißen oder mit den Füßen Beifall trampeln, wenn der Verteidiger die „normale“ Weltsicht wiederhergestellt hat.

Gabriele Wittmann

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