: Das Standrecht des Augenblicks
Gefährlich leben! Motive antibürgerlichen Denkens von Carl Schmitt bis Botho Strauß – eine interdisziplinäre Tagung im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen ■ Von Mariam Niroumand
Ausgerechnet in ein altes, ehrwürdig der Straße zunickendes Rathaus in Essen-Heisingen hatte die Carl Schmitt-Gesellschaft geladen, um über „Motive antibürgerlichen Denkens im zwanzigsten Jahrhundert“ zu sprechen. Um einen großen Eichentisch im Kruppsaal gruppiert, generös vom kulturwissenschaftlichen Institut bekocht, hatte eine interdisziplinär besetzte Runde überhaupt keine Mühe, Eigenschaften und vor allem Annehmlichkeiten des Bürgerlichen aufzurufen, auch wenn es einem als abgegrenzte soziale Kategorie ein bißchen weggeglitten sein sollte.
Gewiß: Geselligkeit, Freiheit, Professionalisierung, Empfindsamkeit, Gleichheit, Kultur statt Religion – das alles wollte man dem Leiter der Berliner Forschungsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte, dem Eingangsreferenten Hannes Siegrist, gern als Merkmale des Bürgerlichen abnehmen, nur: War so gesehen nicht längst überall Bürgertum? Ein Hauch des Tragischen, der sich im Verlauf der Tagung zu einem regelrechten Twister auswuchs, wehte einen schon hier an: „Als einziger unter den Ständen drängte das Bürgertum zur Verallgemeinerung. Je kräftiger die bürgerliche Gesellschaft, desto verschwindender das Bürgertum.“
Bürger streiten eh nur mit Bürgern
Beim Durchspielen verschiedener aktueller Konflikte stieß man dann auch immer nur noch auf die Formation Bürger gegen Bürger. Zum Beispiel wird die Debatte um Sterbehilfe ja gerade deshalb so erhitzt geführt, weil alle Beteiligten bürgerliche Grundwerte für sich reklamieren: Gegen die Berufsethik der Ärzte steht kein feudaler Zwang mehr, sondern der Wunsch des Patientenbürgers nach Selbstbestimmung, die er für sein Sterben ebenso geltend machen will wie zum Beispiel für seine Religionsausübung. Obwohl also Konflikte dieser Art darauf hindeuten, daß man Gefahr läuft, mit der Kategorie des Bürgerlichen heute eher ins Beschauliche zu geraten, war nicht ein einziger Vertreter der Systemtheorie geladen, die solche Konflikte unter dem Aspekt der funktionalen Ausdifferenzierung einer eben nicht mehr hierarchisch gestapelten Gesellschaft verortet hätte. Vielleicht galt eben die Melancholie, die aus manchen Beiträgen hervorschimmerte, ein bißchen auch der eigenen Lage: Was bedeutete denn die eigene Bildung noch, wenn sie jedermann zugänglich war?
Unangekränkelt von solchen Selbstzweifeln zeigte sich einzig der Nachlaßverwalter des Staatsrechtlers Carl Schmitt, Herr Joseph Kaiser, der gelegentlich hervorzutreten und einzelne Referenten als „homo ludens“ zu bezeichnen pflegte. „Wie schmeckt Ihnen das“, rief er beispielsweise dem Kieler Philosophen Michael Großheim zu, als der behauptet hatte, auch Schmitt habe in seiner Kritik der politischen Romantik den Ausnahmezustand, die Panik für ein probates Mittel gehalten, „die Eitelkeit des faulen Friedenslebens“ des Bourgeois zu durchbrechen. „Wie schmeckt Ihnen das, politische Romantik? Das schmeckt doch wie Kaviar, mein Herr, köstlicher Kaviar!“
Carl Schmitts Kritik der politischen Romantik bildete eine Art Leitmotiv der Tagung, deren Titel, „Direkte Aktion statt ewiges Gespräch“, sofort einleuchtete und aktuellen Sinn gewann, wenn man ihn auf Motive antiliberalen statt antibürgerlichen Denkens bezog.
In der Romantik mit ihrem „subjektiven Okkasionalismus“, ihrer von Fichte entwickelten (Selbst-)Ironie, ihrem Religions- und Pflichtverlust sieht Schmitt schon den Liberalismus mit seiner „Diktatur des Rationalismus“ heraufziehen: „Unter dem Gesichtspunkt dieser [Schmittschen] Philosophie wird das bürgerliche Ideal friedlicher Verständigung, bei dem alle ihren Vorteil finden und ein gutes Geschäft machen sollen, zu einer Ausgeburt des feigen Intellektualismus; die diskutierende, parlamentarisierende Verhandlung erscheint als ein Verrat am Mythos und an der großen Begeisterung, auf die alles ankommt.“
Erst im Ernstfall, im Angesicht eines Feindes, im Krieg, der nicht um eine Sache, sondern um seiner selbst willen geführt wird („Kein Blut für Öl!“ hätte Schmitt gefallen) findet der Mensch wieder Anschluß ans Elementare. Großheims auf erstaunlich heftiges Mißfallen stoßende Pointe bestand nun darin, dem Schmittschen Mythos – dem er Motive bei Jünger und Heidegger zur Seite stellte – demselben politischen Existentialismus zuzuordnen, den er auch bei den Romantikern ausmacht, Schmitt also mit dem gehaßten Feind auszusöhnen. Fichtes Erfahrung der Selbstentfremdung, die bei Schlegel zur Ironie als „Kunst der Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“ wird, liegt für Großheim auf einem Kontinuum mit dem Schmittschen Dezisionismus: Wo weder Religion noch Tagespolitik mehr akzeptable Vorgaben bieten, bleibt allein die autonome, direkte Aktion. Der Ausnahmefall, der bei den Romantikern noch Spiel oder Fest sein könnte, ist bei Schmitt allerdings der Ernstfall. Die Sache läßt sich bis bis in die Rhetorik der Spaßguerilla versus action directe weiterverfolgen.
Michael Reiter, Philosoph aus Berlin, wies auf die Kontinuität der Figur des Opfers hin, die sowohl bei Carl Schmitt als auch bei Botho Strauß dem bürgerlichen Tauschhandel entgegengesetzt werde – lerne geben, ohne zu nehmen! –, wurde allerdings kritisiert, als er auch den amerikanischen Kommunitaristen Amitai Etzioni in diese Reihe stellen wollte. Im Gegensatz zu Schmitt und Strauß sei dieser weit entfernt davon, unter dem Opfer für die Community auch ein fragloses Blutopfer zu verstehen.
Sehnsucht nach Härte und Schwere
Die Sehnsucht nach „Härte und Schwere“, nach Opfer, nach der „warmen Gemeinschaft“ statt der „kalten Gesellschaft“, nach dem schützenden Gehäuse von Staat, Nation oder volksgenössischem Kollektiv oder wenigstens dem Ende der Psychoanalyse! wurden von der Versammlung ruhig und gesittet auseinandergenommen; zu beängstigen vermochten sie niemanden mehr. Das zumal, als die zentralen Begriffe dieses Antiliberalismus so gespenstisch hohl blieben. Uli Bielefeld vom Hamburger Institut für Sozialforschung zeigte in seinem Vortrag „Die Wiederkehr des Nationalen und das Verschwinden des Volksgenossen“, daß es seit der Diskreditierung aller völkischen oder großmacht- orientierten Begriffe des Nationalen in der Bundesrepublik nicht wieder gelungen sei, „Nation“ neu zu besetzen, obwohl eine Neudefinition mit der Wiedervereinigung und der Europäisierung fällig geworden wäre. Nicht nur ist fraglich, ob das tatsächlich so ist – wer bräuchte ernsthaft einen solchen Begriff zu seinem Glück –, es gibt auch keinen Ort mehr, von dem aus er allgemeinverbindlich verkündet werden könnte.
Wer kein Heimspiel geben wollte, mußte auf die Suche nach Ambivalenzen, nach Übereinstimmungen zwischen den Liberalismuskritikern und seinen Anhängern gehen. Der Hamburger Philosoph Ludger Heidbrink entdeckte in seinem wirklich erhellenden Vortrag, „Ende des tragischen Zeitalters? Zur Ambivalenz einer kulturkritischen Deutungsfigur“, ein erstaunliches Bündnis. Wieder zunächst Botho Strauß: „Wo sind die Beschwerten, die Mahler- und Dostojewski-Naturen...? Wo sind sie, die Verbohrten, die Ringenden, die Zerrissenen, die Heilssüchtigen und Versuchten, die Gemütsfindlinge mit ihrer zermalmenden Passion? Weg. Der Geist, der die Zerklüftung erfassen soll, ist glatt, spiegelglatt wie eine gesunde Leber.“ Statt dessen Gewaltenteilung, Kompromißbereitschaft, Mittelmaß.
Während die antiken Tragödien noch unversöhnliche Antagonismen präsentierten, an denen der Held zugrunde gehen mußte, tröstete im Mittelalter schon die christliche Heilslehre. Der im Barock aufkommende Zweifel an dieser Erlösung führt dann aber nicht zurück in die Tragödie, sondern geradewegs ins bürgerliche Trauerspiel, in dem die Tragik auf das neuzeitliche Individuum und die politischen Konflikte seiner Epoche zusammengedampft wird.
Ende des tragischen Zeitalters?
„Die aufklärungs-wirkungspoetische Deutung der Tragödie im bürgerlichen Zeitalter“, so Heidbrink, „steht für die Abkehr von der Idee einer objektiven Tragik, wenn man darunter das unauflösbare Paradox der schuldlosen Schuldigkeit versteht, vor dem es, so George Steiner, keine Zuflucht zu säkularen oder materiellen Heilmitteln gibt.“ Von Hegel über Nietzsche bis Simmel, Weber und Lukács demonstriert Heidbrink verschiedene Versuche, das Tragische zu retten. Dabei trifft er auf eine „anachronistische Modernität“: Indem nämlich der Tragiker, statt auf metaphysische Widersprüche abzuheben, seine Gegenwart als zu schlapp, zu versöhnlerisch, zu unauthentisch geißelt, hat er sich schon mit ihr eingelassen. „Indem die tragische Reflexion in den Dienst einer radikalmoralischen Kritik nicht authentischer Lebensverhältnisse gestellt wird, verliert das Tragische seinen schicksalhaften, hybriden Charakter (...) Es verwandelt sich in eine, wenn auch negative Aufklärungsform des deformierten, uneigentlichen Lebens, für das anstelle mythischer Mächte der kulturelle Niedergang und Verfall der liberalen Massendemokratie verantwortlich gemacht wird.“
Gibt es eine Möglichkeit, fragt sich Heidbrink, den Tragiker zu uns herüberzuziehen, ihn mit der Moderne zu versöhnen? Ein Rest des Tragischen, so könnte man ihm zugeben, bleibt auch dann noch erhalten, wenn die Gesellschaft als Ganzes untragisch ist, wenn sie ihre Gegner nicht mehr zu Feinden erklärt und sich das Recht nicht mehr gegen den Bürger richtet. Auch dann noch bleibt zwischen dem einzelnen und dem Recht ein Sprung, bleibt die Gleichheit „komplex“ (Walzer). Die Konflikte erwachsen aus dem Inneren der Anspruchskollisionen, aus dem Kern der Gerechtigkeit, nicht mehr aus dem Himmel darüber. Wer sich mit diesem geschichtlich gewachsenen Dauerantagonismus anfreunden muß, hat genug zu tun. Metaphysische Tragik ist da gar nicht mehr nötig.
Die Beiträge werden demnächst in einem Reader des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen veröffentlicht. Anfragen unter der Telefonnummer: 0201/46 88 80
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