Deutschlands andere Lieder

■ Nach fünfzehn Jahren wieder auf dem Spielplan: Wagners umstrittene „Meistersinger“, am Samstag im Bremer Theater

Am 28.9.1996 wird das Theater am Goetheplatz die Musiktheatersaison 1996/7 mit den Meistersingern eröffnen. Einfach so indessen pflegt man die festlich-komische Oper in drei Akten Richard Wagners nicht zu spielen. Entweder man eröffnet einen Kulturtempel von nationaler Bedeutung, oder man feiert etwas.

Den Reichsparteitag der Arbeit zum Beispiel. Die Delegierten hätten im Nürnberger Opernhaus lernen können, was „deutsch und echt“ ist. „Deutschland erwache“ paßt doch eigentlich ganz gut zu „Wachet auf“. Oder doch nicht. Irritierte sie vielleicht, daß dort nicht einer alles bestimmt? Sollten die Meistersinger vielleicht doch ein demokratisches Festspiel sein, was der Wolfgang Wagner dieses Jahr in Bayreuth annahm? Oder gar ein utopischer Wurf, wie Künstler und Volk, Kunstwerk und Gemeinde, Produzierende und Aufnehmende zu vereinen sind, wie es wohl die Musiktheaterschaffenden in der DDR sahen. Die Meistersinger erzählen offenbar nicht nur die schöne Erfolgsgeschichte von einem Junker, der einen Sängerwettbewerb gewann. Ein junger, feuriger, der holden Sangeskunst und der Goldschmiedstochter Eva Pogner ergebener Junker sucht einen anständigen Beruf und will der berühmten Meistersingergilde zu Nürnberg beitreten. Seine Aufnahmeprüfung setzt er in den Sand. Sein Probelied ist gar zu neu und kühn, es weckt die Ängste der biederen Meistersinger nicht nur um den Fortbestand des Sangeskunst, sie fürchten auch um ihre Töchter. Hans Sachs, der Schuster und Poet, in Sorge um Stagnation und Verkrustung des Meistergesanges nutzt den anstehenden Sangeswettbewerb, als dessen 1. Preis der alte Pogner sein eignes Töchterlein ausgesetzt hat, dem geliebten Evchen den geliebten Junker und der Gilde damit den innovativen Sänger zuzuführen. Mit Hilfe der Erweiterung des Stimmrechtes im Wettbewerb auf alle Nürnberger Bürger und anderer, weit bösartigerer Tricks schaltet er den wohlangesehenen Oberstadtdirektor, renommierten Regelhüter der Gilde und unfehlbaren Musikkritiker Beckmesser als sicheren Anwärter auf den 1. Preis aus, nachdem er dem Junker den Weg im behutsameren Umgang mit Tradition und Fortschritt gewiesen hat. Weib und Kunst, Junker und Volk sind am Ende gut bedient, nur der stockreaktionäre Regelfuchser hat sein Teil. Verhöhnt und verlacht verliert er sich in den Volksmassen.

Soweit, so sozialdemokratisch, will mans politisch wenden. Gemächlich, gemütlich und zuweilen pompös wallt denn auch die Meistersingermusik Altes mit Neuem bereichernd durchs Bühnengeschehen. Verfolgt man indessen den Weg zur Erneuerung, den Wagner Sachsen und Sachs den Junker Stolzing führt, mischt sich Grauen ins wohlige Behagen. Beim strahlenden Happy-End schlägt es ins blanke Entsetzen um, denn gefeiert wird die radikale Vernichtung des Konkurrenten. Er ist in seiner Arroganz und Eitelkeit so gnadenlos gezeichnet, daß man Wagners Angst spürt, so zu sein. Da muß die in mildem musikalischen Glanze strahlende Lichtfigur Hans Sachs, dessen Widerpart und auch ein Spiegelbild Wagners , schon zu angemessenen, das heißt ähnlichen Mitteln greifen. Denn der Zweck heiligt die Mittel.

Wäre dies alles, man müßte die Oper unaufgeführt lassen. Doch sie ist wie ihr Schöpfer, der als Kämpfer für Republik, Sozialismus und Freiheit der Kunst begann und als Kämpfer für seine Kunst und seinen Wohlstand endete, vielschichtig und mehrdeutig. Und sie sperrt sich gegen das Happy-End. Denkwürdigerweise sind die „Mißerfolge“ die musikalisch beglückenden, reichsten und kühnsten Teile des Werks. Unvergeßlich Stolzings Lied im ersten Akt und Beckmessers verqueres Ständchen, das Hans Sachs mit den Schusterhammer zerklopft und das die verstörte Menge in einer Prügelorgie beschließt. Stolzings Preislied, mit dem er sich „regelgerecht“ in die Publikumsgunst einschleicht, ist dagegen eine recht öde Schnulze. Und man vergesse nicht, daß im verlogenen Finale das Volk nicht nur mitsummt, sondern im Begrüßungschoral die Aufbruchsstimmung aus Stolzings durchgefallenem Probelied aufgreift und hymnisch steigert. Möglicherweise will es doch anderes und mehr, als Sachs glaubt, ihm zumuten zu können.

Wagners Meistersinger dokumentieren also nicht nur die deutsche Misere, sie artikulieren auch – und das unüberhörbar – das andere Deutschland, das andere, bessere Lieder singen will.

Mario Nitsche