: Feiern statt Nachdenken
■ Beim Festumzug der 16 Bundesländer kommt bei den Zugereisten und Teilnehmern Ausflugsstimmung auf
Orgel-Winni am Brandenburger Tor hat aufgehört zu spielen. Von weitem naht der Fanfarenzug Niederburg/Konstanz mit lautem Rumsassa. Gegen die Deutschlandfahnenschwinger hat er keine Chance, und er gibt sich auch keine Mühe. „Was ist das schon, dieser 3. Oktober? Schau dir doch nur die Gesichter an, dann weißt du, wie die Stimmung ist.“ Kein Lachen, Drängeln mit dem Ellenbogen um einen Platz in der ersten Reihe, verhaltenes Klatschen. „Alles nur traurig“, sagt Orgel-Winni. Jeder andere Tag sei fröhlicher.
„Bei diesem Festumzug soll gefeiert werden, zum Nachdenken sind andere Veranstaltungen da“, sagt Volker Hassemer von „Partner für Berlin“ vor Ort.
Sechs Jahre Einheit? „Im Augenblick verschwende ich keine Gedanken daran“, sagt Ingrid Gertz, die mit ihrer Theatergruppe aus Dithmarschen angereist ist. Viel lieber erzählt sie von ihrem Städtchen in der Heide, vom Krieg gegen die Dänen und von ihrer schönen Tracht aus dem 16. Jahrhundert. Ihre Theatergruppe „Heidemarkt Frieden“ vertritt offiziell das Bundesland Schleswig- Holstein. Dort sind die Einheitsprobleme weit weg. Für Ingrid Gertz ist dieser 3. Oktober „einfach ein schöner Tag“. Bummeln durch Berlin, Marschieren im Festumzug der 16 Bundesländer und, „als bewegender Höhepunkt“, der Gang durchs Brandenburger Tor.
„Deutschland im Jahre sechs nach der Wiedervereinigung hat vieles erreicht und Zahlreiches vor sich – im Inneren wie im Äußeren“, sagt derweil Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister, bei einer Feierstunde im Roten Rathaus.
Dirk Heß war schon einmal in Berlin. Damals noch, als die Mauer stand. Jetzt ist er wieder da, als Mitglied des Waldkirchner Fanfarenzuges. „Luschtig“ sei die Fahrt vom Schwarzwald nach Berlin gewesen, „Schwarzbraun isch' die Haselnuß haben wir gesungen, und es gab sogar eine Bar im City-Night- Line“. Natürlich ist er froh, daß die Mauer weg ist. Daß mit der Einheit auch Probleme kamen? „Wir im Schwarzwald merken davon ja nicht viel.“
„Wir haben heute weniger, als wir träumten, aber mehr, als wir hatten“, sagt Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley im Roten Rathaus
Mächtig aufgeregt ist Bernd Gahr, der kleine Knirps aus Niederburg/Konstanz, nicht größer als die Deutschlandfahne, die er stolz in den Händen hält. Ganz vorn im Festumzug darf der Neunjährige mitmarschieren, quasi als Auszeichnung für den deutschen Meistertitel im Fahnenschwingen, den er vor zwei Wochen gewonnen hat. Als die Einheit kam, war Bernd Gahr gerade mal drei Jahre alt; mit der Frage, ob dieser Tag für ihn ein besonderer sei, kann er nichts anfangen. Viel wichtiger für die Mitglieder des süddeutschen Fanfarenzugs ist eine ganz andere Frage: „Kommen wir wieder ins Fernsehen?“ Was Thomas Mazzardo ausspricht, denken viele. Jens Rübsam
Lesen gegen das Patriarchat
Auf taz.de finden Sie eine unabhängige, progressive Stimme – frei zugänglich, ermöglicht von unserer Community. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen