Die neue Weltordnung der Internetprovider

■ Staatliche Gesetze fehlen, an die vielbeschworene Netiquette glaubt niemand mehr: In Europa greifen jetzt private Interessenverbände zur Selbsthilfe gegen Pornographie und andere möglicherweise st

Jon Katz, Medienkritiker des Onlinemagazins Hotwired, malt zunehmend düstere Visionen in seine Kolumnen. „Die Bedrohung kommt von innen“, überschreibt er seine neuste Warnung vor der bevorstehenden Fundamentalkrise des Internet (http://www.netizen .com/netizen/). Der Zusammenbruch wäre selbstverschuldet. Denn es könnte sein, meint Katz, daß sich zwar Gerichte und Regierungen für die freie Rede im Internet aussprechen, im Internet selbst aber niemand mehr mehr zu Wort kommt, weil jede abweichende Meinung mit Beschimpfungen bestraft wird. „Ironischerweise“, schreibt der Kolumnist, der sonst lieber mit den schreibenden und filmenden Kollegen ins Gericht geht, „ist im Web immer nur dann von Zensur die Rede, wenn nebulöse Außenstehende sagen, was wir tun oder lassen sollten. Wenn wir selbst dagegen bösartig und brutal Leute daran hindern, frei zu sprechen, dann glauben wir, damit unsere gute alte Liebe zur Redefreiheit zu beweisen.“

Neben Mailbombardements gehört inzwischen im Usenet offenbar auch das Aussenden von Computerviren an unliebsame Briefschreiber zum Arsenal der „selbsternannten Revolutionäre“ (Katz). Die vielgerühmte Selbstkontrolle des Netzes jedenfalls scheint gründlich versagt zu haben. Einigermaßen resigniert fragt Katz, ob wir nur noch dazu da sind, Meinungen von jungen zornigen Männern zu verbreiten?

Die Netzgemeinde löst sich in der Usermasse auf

Doch nicht nur der liberale Kolumnist des immer noch meinungsbildenden Magazins, auch biedere Geschäftsleute haben keine Lust mehr, sich für die schrankenlose Freiheit beliebiger Schaumschläger und Sexualphantasten prügeln zu lassen. In Europa greifen Internetprovider zur Selbsthilfe – bevor Staatsanwälte, Medien und Zensurgesetze der Staaten ihnen das Geschäft verderben.

Noch hat der oberste Gerichtshof der USA nicht über den Revisionsantrag des Justizministeriums gegen das Urteil von Philadelphia entschieden, das den sogenannten Communications Decency Act für verfassungswidrig erklärt hat. Niemand rechnet jedoch ernsthaft damit, daß dieses Zensurgesetz in seiner jetzigen Form noch eine Chance hat. Zur Ironie der Netzgeschichte, von der Katz spricht, gehört auch, daß staatliche Zensurversuche außerhalb Amerikas eine neue Form der Netzkontrolle hervorgebracht haben. Nicht mehr die Gemeinde der User, sondern die kommerziellen Firmen erheben den Anspruch, zu entscheiden, was im Netz zulässig ist.

Onlinedienste wie CompuServe oder AOL haben ihren Kunden ohnehin schon immer rigorose Anstandsregeln in die Zugangsverträge geschrieben. AOL ermuntert seine Mitglieder sogar zur Denunziation, unterhält einen eigenen Überwachungsdienst und behält sich das Recht vor, im Verdachtsfall auch den Mailverkehr zu überprüfen. Solche Praktiken waren im Internet bisher verpönt. jetzt aber greifen auch reine Internetprovider zu ähnlichen Mitteln. Sowenig wie Jon Katz mögen sie weiterhin an die heilsamen Wirkungen der Netiquette glauben. Staatliche Gesetze sind in Europa noch kaum über das Stadium von Entwürfen hinausgelangt, die Provider versuchen, die Lücke selbst zu füllen. Es geht ihnen nicht nur um Rechtssicherheit und Schutz vor Ermittlungsbehörden, wie im Falle der deutschen Internet Content Task Force, die auf einen rechtlichen Hinweis der Bundesanwaltschaft hin gleich einen ganzen Webserver gesperrt hat. In Deutschland hat der Providerverband „eco“ darüber hinaus einen Medienrat gebildet, der „ausgewogene Empfehlungen und Richtlinien“ entwickeln will, um das „Internet sozialverträglich in die Gesellschaft zu integrieren“, wie es in der Gründungsresolution heißt.

Sehr viel deutlicher formuliert dieses Ziel die britische „Internet Service Providers Association“ (ISPA), die Ende September eine 36 Punkte umfassende Selbstverpflichtung veröffentlicht hat (http://www.ispa.org.uk/safetypa .html). Einer der Kernsätze des Programms „Safety Net“ lautet: „Internetprovider tragen Verantwortung für ihre Dienstleistungen. Sie müssen vernünftige, praktikable und angemessene Maßnahmen gegen die Nutzung des Internets zu illegalen Zwecken ergreifen und dafür sorgen, daß gegen Materialien oder Aktivitäten vorgegangen werden kann, die als illegal identifiziert worden sind.“

Das Papier, das auch der Betreiber des Londoner Internet-Zentralknotens „LINX“ unterschrieb, zählt im Detail die Maßnahmen britischer Provider auf. Dazu gehört ein sogenannter Rating- Dienst, der den „normalen Inhalt“ von Newsgroups und Websites nach den Kriterien der „Platform for Internet Content Selection“ (PICS) bewertet. Dieses Regelwerk, das einen den technischen Internet-Standards vergleichbaren Status haben soll, wird zur Zeit noch von der Computerindustrie erarbeitet – die neuste Version des Microsoft-Browsers „Explorer“ enthält schon eine Menüoption, mit der Websites gefiltert und mit Paßwörtern vor Kindern abgeschirmt werden können.

Britische Moral für den Rest der Netzwelt

Doch der britische Providerverband will nicht nur strafbare Produkte von seinen Rechnern verbannen, sondern auch mithelfen, die Täter zu finden. Diesem Zweck dient eine sogenannte „Hotline“, auf der Internet-User mutmaßliche Verstöße gegen Recht und Gesetz melden können. Der Dachverband will die Hinweise überprüfen und seine Mitglieder gegebenenfalls anweisen, die strafbaren Dokumente zu löschen. Damit die Quellen auch tatsächlich gefunden werden, wird die ISPA außerdem das Protokollsystem des Datenverkehrs verbessern: Zumindest in Großbritannien sollen anonyme Adressen nicht mehr zugelassen werden, und Pseudonyme nur, solange sie auf den tatsächlichen Autor zurückführbar bleiben.

Nationale Verbote, von wem sie auch immer ausgesprochen werden, können bisher im Internet leicht unterlaufen werden. Doch die ISPA hofft, daß ihr Beispiel in anderen Ländern Schule macht. Der Sprecher des Verbands erwartet sogar, daß Großbritannien mit dieser Initiative eine „weltweite Führungsrolle“ im Internetgeschäft einnehmen werde. Die Hoffnung ist begründet. Anfang dieser Woche haben in der Schweiz 24 Provider eine „Arbeitsgruppe Recht und Internet“ gebildet, die Gründung eines formellen Dachverbands steht bevor. Die Arbeitsgruppe hat schon mal zwölf „Grundsätze“ formuliert, die unter anderem vorsehen, daß die Mitgliedsfirmen keine „strafrechtlich relevanten Internetangebote“ akzeptieren und sich gegenseitig über mögliche Verstöße informieren. Dokumente, die nach Meinung der Provider strafbar sind, werden von Schweizer Servern gelöscht, die Urheber, soweit bekannt, den Ermittlungsbehörden mitgeteilt.

Die Zeiten der Netzanarchie sind vorbei. Mit den Maßregeln der britischen Provider verglichen, nimmt sich die deutsche Internet Task Force eher bescheiden aus. Rechtsanwalt Michael Schneider, in der Newsgroup „de.soc.zensur“ mittlerweile auch mal als „tapferes Schneiderlein“ apostrophiert, sitzt noch an der Klageschrift gegen die Bundesanwaltschaft, die dem Providerverband „eco“ Ermittlungen wegen der auf dem niederländischen Server „xs4all“ abrufbaren Zeitschrift radikal angedroht hatte. Die Sperrung des Rechners, die Schneider daraufhin empfohlen hatte, erwies sich als weitgehend wirkungslos, seit Anfang letzter Woche ist sie wieder aufgehoben: Die Betreiber von xs4all haben mitgeteilt, daß die radikal- Ausgabe entfernt worden sei, jedenfalls bis auf weiteres. Auch die Bundesanwaltschaft sah ein, daß damit der Anfangsverdacht auf Beihilfe zu Straftaten nach den Paragraphen 129a und 130a nicht mehr haltbar sei, und versprach, von Ermittlungen abzusehen – ebenfalls bis auf weiteres.

Also gestärkt wies Schneider umgehend Claudia Nolte in die Schranken (http://www.anwalt.de/ ictf/index.htm). Die Bonner Familienministerin ließ letzte Woche die sattsam bekannten Websites des Neonazis Ernst Zündel auf den Index setzen, verbunden mit dem Hinweis, Internetprovider sollten verhindern, daß dieses Material Jugendlichen zugänglich werde. Dafür bestehe sogar „dringender Handlungsbedarf“ erläuterte ein Sprecher die Meinung der Ministerin. Die „Indizierung von WWW- Seiten“ sei jedoch „nach geltendem Recht unzulässig“, schrieb Schneider knapp zurück, eine „Empfehlung für die der Internt Content Task Force angeschlossenen Provider“ sei daraus „einstweilen nicht abzuleiten“. Niklaus Hablützel

(niklaus@taz.de)