: Für eine Handvoll Kratzer
Amtsrichter verurteilt psychisch labile Frau zu zweieinhalb Jahren Haft, weil sie aus Neid ein paar Autos beschädigt haben soll ■ Von Stefanie Winter
Agnes B., die gestern vor Gericht stand, ist Mitte vierzig. Seit vier Jahren ist sie arbeitslos; wegen einer stationären Psychotherapie hatte sie ihre Stelle aufgegeben. Sie würde gern wieder arbeiten, sagt sie. „Wenn ich wieder zur Ruhe gekommen bin.“ Nach dem Willen von Amtsrichter Ronald Schill soll sie jedoch für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Weil sie im Lack von zehn Autos Kratzer hinterlassen habe. Absichtlich, aus niederen Beweggründen und in extrem sozialschädlicher Weise, meint Schill. B. bestreitet die Taten.
In der Rellinger Straße in Eimsbüttel, wo die Angeklagte wohnt, hatten verschiedene Autobesitzer von Februar bis April dieses Jahres Kratzspuren an ihren „ordnungsgemäß abgestellten“ Fahrzeugen entdeckt. Meist hinten links und manchmal „bis aufs Blech“, wie der Geschädigte M. erläutert. Von seiner Wohnung im vierten Stockwerk aus will er dreimal beobachtet haben, wie die Angeklagte aus dem gegenüberliegenden Wohnhaus kam, ein in der Nähe abgestelltes Auto zerkratzte und wieder im Hauseingang entschwand.
Trotz nächtlicher Dunkelheit und „15 oder 30 Meter“ Abstand zum Geschehen sei er sicher, daß es die Angeklagte war. Daß sie Kratzer hinterlassen habe, sei obendrein deutlich zu hören gewesen. M. hatte Zettel mit seiner Adresse an diese und andere zerkratzte Autos geheftet. Eine Frau, die sich daraufhin meldete und der er die „Täterin“ beschrieb, identifizierte sie als ihre Nachbarin Agnes B. Mit der habe sie eineinhalb Jahre zuvor schon Streit gehabt, berichtet sie als Zeugin vor Gericht: Nach einem „Disput“ – und nachdem B. bei den Handgreiflichkeiten am Kopf verletzt wurde – habe B. dann ihr Auto mit einem Hammer bearbeitet.
Nur einer der drei von M. beobachteten Vorfälle war gestern angeklagt, für weitere neun gibt es keine Zeugen. Sie trügen jedoch alle die Handschrift der Angeklagten, begründet Richter Schill sein Urteil – hinten links eben und in geschwungener Linie. Autos zu beschädigen sei „geradezu persönlichkeitstypisch“ für Agnes B.; das beweise der Vorfall mit dem Hammer. Schill erkennt auch das Tatmotiv: eine niedere Gesinnung. Sie sei neidisch, weil sie selbst kein Auto besitzt – auch wenn sie aussagt, daß es wichtigeres als Autos gebe.
Die Besitzer der Fahrzeuge hätten einen großen Teil ihres Einkommens für das Auto, für ihre Mobilität aufgewendet. Und mußten abends ständig Angst haben, daß ihr Fahrzeug beschädigt wird. Immerhin sei in den meisten Fällen ein erheblicher Schaden „in vierstelliger Höhe“ entstanden – laut Anklageschrift bis zu 2500 Mark.
Die nicht vorbestrafte Agnes B. lebt von 1300 Mark Sozialhilfe und Wohngeld monatlich. Auf der Polizeiwache im Bezirk kennt man sie; seit Jahren ruft sie dort an, sie habe Angst, sie werde bedroht. Alkohol, sagt ein Polizeibeamter aus, spiele „bei all dem“ eine erhebliche Rolle. Daß die Angeklagte deshalb oder wegen psychischer Probleme vermindert schuldfähig sein könnte, schließt Schill aus. Anders als die Staatsanwältin, die eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten für ausreichend hielt.
Welche Automarke Richter Schill zum Zwecke seiner eigenen Mobilität nutzt, war gestern nicht in Erfahrung zu bringen.
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