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Die heilige Krankheit

Epileptiker kämpfen gegen Vorurteile und antiquierte medizinische Versorgung  ■ Von Christina Berndt

„Epilepsie braucht Offenheit“, darin wurden sich die Ärzte und Wissenschaftler, aber auch die von Epilepsie Betroffenen und ihre Angehörigen, die sich Anfang Oktober zu den „Tagen der Epilepsie“ in Heidelberg trafen, einig. Eingeladen hatten die Deutsche Sektion der Internationalen Liga gegen Epilepsie sowie die Deutsche Epilepsievereinigung als Dachorganisation der etwa 200 deutschen Selbsthilfegruppen. Sie wollten gemeinsam auf die Schwierigkeiten der Menschen mit Epilepsie aufmerksam machen und die Öffentlichkeit über diese Krankheit informieren.

Nach Ergebnissen einer kürzlich veröffentlichten Emnid-Umfrage ist kaum ein Leiden mit so vielen Vorurteilen behaftet wie die Epilepsie. Noch immer glauben 20 Prozent aller Deutschen, es handele sich bei Epilepsie um eine Geisteskrankheit, und 22 Prozent sprachen sich dafür aus, epileptische Kinder in einer Sonderschule einzugliedern. 15 Prozent haben sogar etwas dagegen, daß eines ihrer Kinder beim Spielen auf jemanden trifft, der manchmal epileptische Anfälle bekommt. Im internationalen Vergleich liefern diese Zahlen für die Bundesrepublik ein erschreckendes Bild.

Kein Wunder also, daß die meisten Menschen mit Epilepsie unter ständiger Angst vor Entdeckung leben. Obwohl Epilepsie weltweit die häufigste neurologische Erkrankung ist, weiß kaum jemand von einem Betroffenen in seinem Bekanntenkreis. In der Antike noch galt Epilepsie als Morbus sacer, als die „heilige Krankheit“. Man glaubte, im epileptischen Anfall würde der Betroffene von einer göttlichen Macht ergriffen. Aber diese Mächte sind nicht mehr gefragt. Was nicht verstanden wird, macht Angst – der Epilepsiekranke wird von der Gesellschaft ausgegrenzt.

Zuckende Extremitäten und Speichelfluß prägen immer noch das Bild der Epilepsie in der Öffentlichkeit. Der große Anfall, Grand Mal (großes Übel), der Minuten andauern kann, ist jedoch nur eine der Erscheinungsformen des epileptischen Anfalls. Viel häufiger sind kurze, nur wenige Sekunden andauernde Bewußtseinspausen, in denen der Betroffene die Kontrolle über seinen Körper nicht einmal vollständig verlieren muß. Die meisten Menschen mit epileptischen Anfällen können daher einem ganz normalen Beruf nachgehen und sind über Monate oder auch Jahre anfallsfrei.

Die Zahl der über lange Zeiträume anfallsfrei lebenden Epilepsiekranken ließe sich leicht von derzeit etwa 50 Prozent auf zwei Drittel erhöhen – würde der heutige medizinische Kenntnisstand richtig genutzt. Nach Daten, die der „Verein zur Erforschung der Epidemiologie der Epilepsien“ zusammengetragen hat, werden jedoch etwa die Hälfte aller Epilepsiekranken statt von Spezialisten von ihren Hausärzten versorgt. Mehr als 90 Prozent der Patienten werden mit Medikamenten behandelt, die bereits seit Jahrzehnten im Handel sind. „Dabei gibt es seit vier Jahren eine neue Generation vielversprechender Medikamente“, erläuterte Dietz Rating von der Universitäts-Kinderklinik in Heidelberg. Diese Mittel greifen in den Stoffwechsel der Neurotransmitter ein, also derjenigen Substanzen, die im Gehirn Botschaften zwischen den Nervenzellen übermitteln.

Zwar ist die Genese der Epilepsien nicht völlig geklärt, doch geht jedem epileptischen Anfall eine plötzliche Aktivitätssteigerung des zentralen Nervensystems voraus. Das Gleichgewicht von Anregung und Hemmung, das durch die verschiedenen Neurotransmitter aufrechterhalten wird, gerät aus den Fugen; es findet eine synchrone Entladung zahlreicher Nervenzellen statt – der epileptische Anfall.

Neuerdings verzeichnen jedoch auch nichtmedikamentöse Therapien immer größere Erfolge. Viele Patienten spüren nämlich im Vorfeld eines Anfalls jene „Absprache“ der Nervenzellen zum gemeinsamen Aufstand. Man spricht von „Aura“. Durch genaue Selbstbeobachtung kann es ihnen deshalb gelingen, den beginnenden Anfall zu kontrollieren oder sogar völlig abzuwenden. „Jeder kann sein persönliches Gegenmittel finden“, meint der Vorsitzende der Deutschen Epilepsievereinigung, Klaus Göcke aus Berlin.

Die wirklichen Ursachen für die Entwicklung von Epilepsien sind so zahlreich wie ihre Erscheinungsformen. Zu ihnen gehören neben direkten Erkrankungen des Gehirns, wie zum Beispiel Durchblutungsstörungen oder Hirntumore, auch Stoffwechselerkrankungen, die auf die Hirnfunktionen einwirken. Eine genetische Disposition liegt in etwa 10 Prozent der Fälle vor. Das klinische Bild der Erkrankung manifestiert sich jedoch nicht ohne äußeren Auslöser. So kann noch fünfzehn Jahre nach einer Hirnverletzung ein erster epileptischer Anfall auftreten, der auf lange Sicht der einzige bleiben kann. Alkohol, eine Änderung des Schlafrhythmus, intermittierende Lichtreize oder außergewöhnlich belastende Situationen kommen als auslösende Faktoren in Frage. „Jede Epilepsie beginnt mit einem ersten Anfall, aber nicht jeder erste epileptische Anfall bedeutet, daß sich eine Epilepsie entwickeln wird“, kann Peter Wolf vom Epilepsie-Zentrum Bethel in Bielefeld seine Patienten beruhigen. Er plädiert daher für einen vorsichtigeren Umgang mit medikamentöser Behandlung nach dem ersten Auftreten. Wolf sucht mit seinen Patienten in langen Gesprächen nach den persönlichen Auslösefaktoren. Gelingt es, diese herauszufinden und zu vermeiden, bleibt den meisten Patienten der nächste Anfall mehrere Jahre lang erspart.

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