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Fin de siècleTatsächlich in den Leib geschaut

■ Der Prinz und seine Bilder der Wilden: Die Hamburger Kunsthalle zeigt Fotografien von Bernhard Prinz

Das Haus hat lange Gänge, viele offene Kammern, Winkel sowie überraschend sich öffnende Salons und Treppen. Einst ein Adelssitz, ist es längst im Gebrauch umgewidmet und gibt ein großes und vertracktes Museum früherer und zeitgenössischer Kunst. Der Reisende findet es in Hamburg gleich neben dem modernen Hauptbahnhof mit seinem imposant geschwungenen Dach aus Glas und Eisen.

Wenn das Haus, in nicht ganz zutreffender Schlichtheit „Kunsthalle“ genannt, schon für gewöhnlich von Spuk belebt ist, verstärkte sich der Eindruck an einem Sonntag im späten September, indem man lebenden Figuren in den Gängen begegnete, deren statische Ebenbilder man Sekunden später in einem Saal wiederfand, dessen Titel „Blessur“ lautet.

Wie in der Ahnengalerie sahen acht Figuren auf die Besucher herab: vier Frauen, drei Männer – und ein Kind, das, von einer schrecklichen Hautkrankheit befallen, wahrscheinlich längst abgeholt worden ist vom lieben Erzonkel Dracula-Gabriel, um als schwebender Geist zukünftige Umbauten im Hause, die nicht ausbleiben werden, mißtrauisch aus dem Äther zu beäugen. Gerade schreitet der Hausherr an mir vorbei oder sein Astralleib mit dem typisch leichtgereckten Profil.

Wir schreiben – oder nicht? – das Jahr Achtzehnhundertsechsundneunzig. Der Künstler, der ein Prinz ist, hat an diesem Tag seinen schwarzen Wanderstab zu Haus gelassen, um nicht mehr als nötig als Dandy in Verruf zu geraten. Man muß annehmen, daß Damen der höheren Gesellschaft anwesend sind; jene, die vor einigen Wochen ihr Entsetzen kundtaten, daß der Prinz in einem Lagerraum in Hafennähe Bilder von Kindern zeigte. Sie wissen schon, das Zetermordio um die Unschuld der Infanten, das seit einigen Jahren en vogue ist. Die schimmernden Knopfaugen der Infanten müssen sich aber in der Apparatur des Prinzen, der sich der modernen Wissenschaft der Photographie zugewandt hat, festgefressen haben, denn dieselben Augen sprechen stumm aus den Gesichtern der Männer und Frauen. Während man vor nicht langer Zeit noch zu sagen wußte, welchen Standes einer war, sind die Jüngeren unserer Zeit unter die Seeräuber gefallen. Jedenfalls imitieren sie allerhand barbarische Sitten. Ein Mann, der seinen Kopf hat nahezu kahl scheren lassen, trägt am rechten Ohr Ringe, wie es wohl in Africa gang und gäbe sein mag; aber auch sonst ist sein Gesicht, das im Oval schimmert wie ein auf den Kopf gedrehtes Ei, an den weicheren Stellen mehrfach durchstochen. Die Schmerzen des heiligen Sebastian dürften größer nicht gewesen sein. Beide Spitzen seiner Brust sind wie durch kleine Bullaugen gesehen freigelegt und tragen dieselben schmerzhaften Zeichen aus handgeformtem Silber.

Übrigens ist auch ein Mann vom schwarzen Kontinent zu sehen, der ein bleiches Hemdchen von Kattun für den Betrachter lüpft, um eine Stelle auf seinem Bauch preiszugeben, die der Haut eines Neugeborenen in hiesigen Breitengraden farblich ähnelt. Die Form dieser Stelle selbst allerdings mutet an wie die Karte eines Kontinents.

Auch bei den Frauen möchte man meinen, daß sich das Heilige und das Wilde in ihnen verschränken. Während eine Dame mit irisch gefleckter Gesichtshaut gewöhnliche Arbeitskleidung wie einen Schleier trägt und ihre Brust auf keusche Weise enthüllt hat – wie man es von edleren Marienbildnissen her kennt –, entblößt eine andere ihr Herz soweit, daß man auf ihrer Haut ein Bild eingraviert sieht, welches das Innere ihres Herzens mit seinen Gängen und Kammern darstellt – wie es in neueren Illustrationen der anatomischen Medicin dargestellt ist. Einem Mann müssen die Chirurgen tatsächlich in den Leib geschaut haben, denn der lange Schnitt hat eine Narbe hinterlassen, die sich über Brust und Bauch schlängelt wie ein Flußlauf, von einer Anhöhe gesehen.

So wie alle Dargestellten etwas Inneres nach außen gekehrt haben, ergibt sich gegenläufig der Eindruck, daß sie etwas Äußeres verbergen. Ihre eigene Haut scheinen sie wie eine Rüstung zu tragen.

Der Künstlerphotograph betreibt sein Atelier wie ein Theater, in dem er die Besucher aus einem reichen Fundus sich verkleiden läßt. Man hat allerdings nicht den Eindruck, die Rollen seien so gewählt, daß sie dem Charakter der Person widersprechen würden. Eher möchte man meinen, alle Figuren, das Kind ausgenommen, wären aus der Reihe des Chorus hervorgetreten und hätten sich in Rollen aufgeputzt, die alle Blicke auf sich ziehen und somit die wichtigste Figur im Drama anzeigen, den Platz des Königs und der Königin. Ulfus Edmund Ciegler

Bernhard Prinz: „Blessur“. Fotografien in der Hamburger Kunsthalle, bis zum 10. November 1996.

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