Eins mit sich werden

Das harmonische Zusammenwirken von Körper und Seele steht im Mittelpunkt neuerer Gestalt- und Körpertherapien
■ Von Annefried und Günter Friedrich Hahn

Seit Aristoteles ist bekannt, daß der Körper eine Seele hat und umgekehrt. Nichtsdestotrotz sind die allermeisten von uns sich selbst entfremdet: von ihrem Körper oder ihrer Seele oder von beiden. Oder spüren Sie sich bis in die Fußspitzen, während sie jemand anderen beim Gespräch anschauen? Bemerken Sie ihren Atem, während Sie dies lesen? Kaum! Es atmet sich automatisch. Und wenn die Schuhe nicht drücken, wird's den Füßen wohl gutgehen. Meistens bemerkt man, daß etwas zu tun ist, wenn die Probleme schon da sind: Rückenschmerzen, Depressionen, Migräne, Ängste, Knieschmerzen, Hexenschuß, Schlaflosigkeit, Gereiztheit und so weiter. Hier kann eine Körpertherapie helfen.

Der eigentliche Begründer der Körpertherapie war Wilhelm Reich. Er entwickelte seine Methode als eine Erweiterung der Psychoanalyse und begründete damit einen ganzheitlichen therapeutischen Ansatz. Das bedeutete einen gewaltigen Schritt nach vorne in der Behandlung des leidenden Menschen. Reich prägte den Begriff „Charakter“ und meinte damit nicht nur eine innere, geistige oder seelische Haltung, sondern auch die Körpersprache und die Körperhaltung seiner Patienten. In diesem Zusammenhang sprach er auch von „Panzerung“, um deutlich zu machen, daß der Charakter- Panzer den Menschen blockiert oder, wie er das nannte, die „sexuelle Energie bindet“. Demzufolge ging es ihm darum, diese blockierte Energie wieder freizusetzen.

Etliche neuere Schulen der Körpertherapie sind in direkter Nachfolge Wilhelm Reichs entstanden. Seit Beginn dieses Jahrhunderts entwickelten sich parallel dazu andere Richtungen der Körpertherapie, die den Körper ins Zentrum ihrer Arbeit stellen. Der Psyche wird hier keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, wenngleich sich die Arbeit auch auf sie auswirkt, so die Eutonie, Feldenkrais, Gindlerarbeit, Rolfing, Alexander-Technik und andere. Diese Therapien setzen direkt am Körper an: mit Bewegungsübungen, mit der Wahrnehmung des Körpers oder, wie beim Rolfing, mit Bindegewebsmassage. Die BegründerInnen diese Methoden haben gute Wege gefunden, mit dem ganzen Körper zu arbeiten.

Inzwischen gibt es Therapieformen, die die Grundlagen Wilhelm Reichs mit verschiedenen Methoden der Körperarbeit und mit unterschiedlichen psychotherapeutischen Ansätzen verbinden. Dazu gehören unter anderem die körperorientierten Ausprägungen der Gestalttherapie und die Lomi- Körpertherapie, die 1970 in Kalifornien gegründet wurde. Sie basiert auf Gestalttherapie, Rolfing, Bewegungsarbeit, reichianischer Atemarbeit und meditativer Achtsamkeit. Das Menschenbild der Lomi-School ist ganz ähnlich wie das der Gestalttherapie: Beide gehen aus vom ganzen sozialen Menschen, der sich physisch wie auch geistig-seelisch mit seiner Umwelt auseinandersetzen muß.

Lomi-Körpertherapie ist ein sehr wirkungsvoller Weg, um die ganze Person zu erreichen. Eine Grundannahme ist, daß wir Erinnerungen, die zu schmerzhaft sind, um sie zu ertragen – wie Unfälle, Mißbrauch, plötzlicher Verlust – in den Körper, zum Beispiel in die Muskeln oder Gelenke verlagern. Hier werden sie sozusagen „aufbewahrt“, gefroren. Das mag sinnvoll sein und ist allemal besser, als gefühlstot oder verrückt zu werden. Es bedeutet jedoch auch erhebliche Einschränkung: Körperlich werden wir unbeweglicher, seelisch starrköpfig oder unbeugsam.

Viele entwickeln „Schwachpunkte“ im Körper, Stellen, die immer als erste betroffen sind: Die eine leidet häufig unter ihrem steifen Nacken; der andere beißt sich nachts im Schlaf die Zähne kaputt; der dritte kriegt just immer dann Kopfschmerzen, wenn das Leben so richtig Spaß macht.

Da es nach dem ganzheitlichen Verständnis der Lomi-Therapie keine Trennung von Körper-Seele-Geist gibt, findet jede Emotion ihre Entsprechung in einem körperlichen Gefühl oder Symptom – wie auch umgekehrt. Dies gilt übrigens genauso für die Gestalttherapie. In der Sprache finden wir manchen Hinweis darauf: vor Wut mit den Zähnen knirschen – die Angst sitzt einem im Nacken – das ist ihr auf den Magen geschlagen – die Geschichte ist ihm an die Nieren gegangen.

Demzufolge dient die Lomi-Arbeit unter anderem dazu, die seelischen Inhalte aus der muskulären Umklammerung zu befreien, die in Haltung und Bewegung verborgenen Gefühle und Erinnerungen zu (er)lösen. So können die KlientInnen mit Hilfe einer erfahrenen TherapeutIn die Verbindung von Körper-Seele-Geist wiederentdecken und sich als „ganz“ erleben. Wer mit sich selbst verbunden ist, ist lebendig und kreativ, verantwortlich und mutig. Wer mit sich selbst verbunden ist, kann auch Bindungen zu anderen eingehen.

Die Begegnung, der Kontakt spielt in der Lomi-Arbeit und in der Gestalttherapie eine zentrale Rolle. Denn der Mensch ist sozial. Und Zufriedenheit und Leid sind abhängig von der Gestaltung unseres sozialen Lebens. Die Körperhaltung und unsere Art, uns zu bewegen, sind das Ergebnis aller unserer Kontakte mit unserer Umgebung. Wer beispielsweise oft zurückgewiesen wurde, wird sich möglicherweise in der Bewegung bremsen: Er kann nicht mehr frei und offen auf jemand anderen zugehen. An dieser „Bremse“ sind meist Muskeln, Gelenke und der Atem – und darin die Gefühle von Angst, Sehnsucht und Ärger – beteiligt. Der ganze Mensch hält sich zurück.

Begegnung ist immer verbunden mit mehr oder weniger Aufregung. Dies können die KlientInnen direkt erleben, wenn sie sich beispielsweise einmal mit Hilfe ihrer Therapeutin gerade hinstellen und dabei direkten Augenkontakt mit ihr aufnehmen. Dann wird es spannend.

In der weiteren Arbeit geht es dann allerdings nicht mehr darum, ständig „gerade und aufgeregt“ zu sein, sondern sich selbst – seinem Stillhalten, der Rückenkrümmung, dem Knie-Durchdrücken, den Muskelverspannungen und den darin enthaltenen Gefühlen – auf die Spur zu kommen; sich selbst ganz und gar wahrzunehmen und kennenzulernen sowie neue Haltungen, Bewegungen und Begegnungen zu erproben. Erst dann, wenn wir unsere Ängste und Blockierungen kennen und die Möglichkeiten des freien und aufregenden Kontaktes – erst dann sind wir in der Lage, eine Wahl zu treffen und unsere alten Haltungen, seelische und körperliche, loszulassen. Oder sie zum Schutze zu nutzen.

Die AutorInnen arbeiten als Therapeuten in eigener Praxis und publizieren zu Themen der Gestalttherapie und Körpertherapie.