: „Ein korrumpierter Sandinismus, der nicht mehr revolutionär ist“
■ Der Befreiungstheologe und Schriftsteller Ernesto Cardenal über die Wahlen in Nicaragua und den FSLN-Kandidaten Daniel Ortega
taz: Sie sind letztes Jahr aus der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) ausgetreten. Bei den Präsidentschaftswahlen scheint deren Kandidat Daniel Ortega, neben den rechten Liberalen, wieder Chancen zu haben. Was wäre das beste, was Nicaragua am Sonntag passieren könnte?
Ernesto Cardenal: Ich denke, es kann gar nichts Gutes passieren. Beide Optionen sind schlecht: ein korrumpierter Sandinismus, der nicht mehr revolutionär ist – oder die Rückkehr des Somozismus mit dem Kandidaten der Liberalen, Arnoldo Alemán, soweit er eben zurückzuholen ist. Natürlich wäre Alemán ein bißchen schlimmer. Wenn er seine Drohungen umsetzt, die halbe Welt einzusperren – längst nicht nur die Sandinisten, sondern auch Mitglieder der Regierung –, könnte es sogar wieder zum Volksaufstand kommen. Die Sandinisten dagegen müßten, trotz ihrer korrupten Führung, wenigstens einen Teil ihrer revolutionären Praxis in die Tat umsetzen.
Der Bewegung der sandinistischen Erneuerung (MRS), der Sie zusammen mit anderen aus der FSLN ausgetretenen Intellektuellen nahestehen, werden nur ein paar Prozentpunkte prophezeit. Warum ist sie noch so schwach?
Die MRS hat ja gerade erst angefangen. Und die Orthodoxen der offiziellen FSLN verfügen über eine Basis, die ihnen eine neue Partei nicht leicht wegnehmen kann. Zwar sind fast alle Künstler und Intellektuellen zur MRS gegangen, die Basis aber hängt immer noch sehr an Ortega. Das gleiche gilt für das Ausland: Seine ganze Person ist ziemlich idealisiert worden, er steht als Name eben für die Revolution, und die Solidaritätsgruppen sind nicht so leicht dazu zu bringen, dieses Bild zu modifizieren.
Was werfen Sie als langjähriger Weggefährte Ortega heute am meisten vor?
Sich selbst verraten zu haben. Heute ist er jemand, der von der Lüge und der Verleumdung lebt. Man kann doch nicht behaupten, für die Armen zu sein, wenn gleichzeitig Millionen Dollar geraubt, aus dem Lande geschafft oder in großen Besitztümern hier angelegt wurden. Von Ortega persönlich könnte ich das nicht sagen, sicher aber ist, daß er zum Komplizen dieser Korruption geworden ist. Dazu kommt die moralische Korruption, die noch schlimmer ist. Ein Beispiel: Die Kampagne, die die FSLN gegen die parlamentarische Fraktion um Sergio Ramirez [Präsidentschaftskandidat der MRS, d. Red.] begonnen hat, in dem Sinne, daß das keine Revolutionäre mehr seien, sondern Kleinbürger und Sozialdemokraten. Und jetzt ist die FSLN sogar als Vollmitglied in die Sozialistische Internationale eingetreten. So etwas ist doch völlig unmoralisch.
Würden Sie sagen, daß die Wahlen so etwas wie ein Wettkampf zwischen zwei verschiedenen Caudillos sind?
Genau. Auch das werfe ich ihm vor: seinen Caudillismus, seine autoritäre und dikatorische Befehlsführung. Das ist doch ein völlig irrationaler Caudillo-Kult, in dem die Massen immer „Daniel, Daniel, Daniel“ brüllen. Das war früher anders: Die FSLN hatte eine kollektive Führung aus neun Leuten, wo es intern viele Diskussionen gab und nach außen die Mehrheitsentscheidung akzeptiert wurde. Diese Führung wurde immer weiter reduziert: erst auf drei, dann zwei, schließlich auf einen. Interview: Anne Huffschmid
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