: Die existentielle Dunstabzugshaube
Als Jazz noch „Tanzsinfonik“ hieß, war die „Tonne“ in Dresden die allererste Adresse. Man wärmte sich an sperrigen Klängen der lokalen Avantgarde. 15 Jahre später ist der Jazzclub nurmehr ein Kulturveranstalter unter vielen ■ Von Henry Altmann
Dresden, am Rande der Altstadt. Wie ein fauler Zahn ragt die Ruine des Kurländer Palais' aus den sanierten Jacketkronen barocker Provenienz hervor. Daß die Wurzel noch nicht abgestorben ist, zeigen Jazzklänge an, die aus einem Lüftungsfenster gen Himmel steigen.
Wer nach der Quelle sucht, findet sie 24 Sandsteinstufen tiefer, im Gewölbe der Ruine. Hier, wo vor 250 Jahren die „Societé des Antisobres“ ihre Zusammenkünfte abhielt, logiert seit 1981 der einst einzige Jazzclub der DDR, die „Tonne“. Das Programm ist vielfältig und die Weinkarte so außergewöhnlich wie zuweilen das Drumherum. In Stoßzeiten hilft die Chefin persönlich hinterm riesigen Apothekertresen aus, bevor sie mit einem Glöcklein durchs Gemäuer wandelt, um zum zweiten Set zu rufen. Wenn nicht gerade ein Nat Adderly oder eine Maria João spielt, verhallt der Ruf heute allerdings oft ungehört.
Dem war nicht immer so. Vor der Wende reichte die Schlange der um Einlaß Begehrenden häufig um die nächsten beiden Hausecken herum. Geduldig harrte man auch bei klirrender Kälte aus, um sich hernach an den oft sperrigen Klängen der Dresdner Avantgarde zu reiben und zu wärmen. „Ich bin weiß Gott nicht immer wegen der Musik hierhergangen, außer wenn der Schmiedel eingeschmuggelte Platten aus dem Westen auflegte“, hört man freimütig des öfteren, und daß man hier „einfach etwas aufatmen“ konnte.
Zwischen IG Jazz und IM „Blue Note“
Jazzluft macht frei. Von der Obrigkeit argwöhnisch beäugt (IM „Blue Note“), wurde mit der familiären Atmosphäre zugleich ein Hauch von Opposition eingeatmet. Daß die damalige IG Jazz sich 1977 unter der schützenden Hand des Kulturbundes überhaupt gründen konnte, ist bereits bemerkenswert. Denn Aktivitäten in Sachen Jazz war aufgrund „fehlender sozialistischer Inhalte“ bis dato immer der behördliche Riegel vorgeschoben worden. Obgleich „Jazz als Musik der Unterdrückten“ im Schulunterricht theoretisch ausgiebig behandelt wurde, durfte hierfür im realsozialistischen Leben kein Platz sein.
Nach vierjährigem Kampf mit den Instanzen über und den Schuttbergen unter der Erde feierte die Tonne im März 1981 Eröffnung. Konzerte, sei es Dixie, Blues und Avantgarde, waren immer ausverkauft. Regen Zulauf hatten auch Vorträge über „populäre Musik“, die, mit neuen Platten aus dem Westen garniert, vom oben genannten Gottfried Schmiedel gehalten wurden. Martin Walser hat ihn in der „Verteidigung der Kindheit“ porträtiert („Jetzt müßten nur noch die Saphire besser werden, dann könnte es sich zu leben noch lohnen.“). An der Musikhochschule mutierte aus Tarngründen Jazz derweil zur „Tanzsinfonik“, während IG Jazz und Behörde mit Haken und Ösen um „die Vereinbarlichkeit mit der sozialistischen Erziehungsaufgabe“ fochten. „Jedes Konzert und jede Veranstaltung mußte extra beantragt und genehmigt werden“, erinnert sich Tonne-Chefin Angelika Schmidt. „Da wurde oft mit den unsinnigsten Argumenten gearbeitet, um sich durchzusetzen.“
Wir sitzen im winzigen Büro der Tonne-Chefin, das heißt, wir sitzen in einem kleinen Kämmerlein, das vornehmlich aus Papierstapeln und Tonträgern besteht. „Was andere an Chaos in ihrem ganzen Leben nicht zusammenbekommen, habe ich hier an einem Tag“, so Schmidt. Beim letzten Konzert fiel der Strom aus, heute hat durchgesickertes Wasser dem Staubschutz des Flügels die neue Aufgabe eines Regenschirmes zugewiesen. Erst seit kurzem gibt es eine bezahlte Hilfskraft fürs Büro. Der Tonne- Betrieb konnte bislang ohnehin nur durch die hohe Einsatzbereitschaft der Mitglieder gewährleistet werden. Waren sich die einzelnen Fraktionen zwar nicht immer grün, so vereinte der gemeinsame behördliche Gegner doch stets die verschiedenen Lager.
1990 dann beinahe der Garaus: Als der staatliche Gegner durch Wiedervereinigung wegfiel, blieben schlagartig auch die Besucher aus. „Die Leute hatten eben anderes im Kopf“, sagt Angelika Schmidt. „Wir hatten ja schon lange vor der Wende auch internationale Stars hier zu Besuch, zum Beispiel Aki Takase oder Charlie Mariano. Aber wer wollte nach der Wende noch in die Tonne gehen und Conny Bauer hören, wenn man überall hinreisen und langentbehrte Platten kaufen konnte?“
In Anpassung an die veränderten Gegebenheiten mußte sich die Tonne vom Refugium zum modernen Kulturunternehmen wandeln. Statt um Genehmigungen zu streiten, wird jetzt um Förderungen und Sponsoren gekämpft. In ihrer Arbeit habe sich denn soviel nicht geändert, räumt die Geschäftsführerin ein. „Außer, daß alles teurer geworden ist. Vor der Wende gab es keine Steuern und keine Miete, jedenfalls haben wir keine bezahlt, Künstler und Übernachtungen waren billiger.“ Mit erprobtem Verhandlungsgeschick und einem gut Maß an Sturheit gelang es ihr 1994 erstmals, der Stadtkasse 40.000 Mark zu entringen. Für die folgenden Jahre wurde gar das Fünffache in Aussicht gestellt – angesichts eines 1,4-Millionen-Etats eine immer noch bescheidene Summe.
Unter den Jazzfans gingen diese Entwicklungen nicht ohne Spannungen vonstatten. „Einerseits haben sich hier bestimmte Leute seit der Wende nicht mehr sehen lassen, glücklicherweise. Andererseits hatte man sich halt in der Oppositionsnische auch irgendwie eingerichtet“, sagt die Tonne-Chefin. „Das war zwar anstrengend, aber wiederum auch ganz bequem.“ Ehedem hatte die Tonne ein staatlich sanktioniertes Monopol inne. Jetzt ist sie nurmehr ein Kulturveranstalter unter vielen, der sich um Profil und Kundschaft bemüht. Die Besucherzahlen haben sich mittlerweile stabilisiert, dafür ist der attraktive Standort zum Problem geworden.
Unten Kneipe, oben Barock
Auf 55 Millionen Mark werden die Wiederaufbaukosten des 1718 errichteten Kurländer Palais' geschätzt. Dazu kommen Auflagen wie die öffentliche kulturelle Nutzung der Barocksäle im Obergeschoß. Potentielle Investoren stehen nicht gerade Schlange und würden die attraktiven Gewölbe zudem kaum einem Jazzclub gegen geringes Entgelt überlassen. Da eine Garantieerklärung von Stadt wie Land ausblieb, griff der Tonne- Verein zu, als ein Bauherr die Keller der ehemaligen „Waldschlößchen“-Brauerei zur Nutzung anbot. Auf einer Fläche von 1.500 Quadratmetern soll ab Mai 1997 in zwei Sälen, einem Café und auf einer Open-air-Bühne der Betrieb aufgenommen werden.
Durch die Nähe zum „Szeneviertel“ Neustadt, durch eine ausgebaute Gastronomie und durch mehr und breiter gestreute Veranstaltungen sollen die veranschlagten 75 Prozent Eigenerwirtschaftung erbracht werden. „Beispielsweise haben wir wegen des guten Zulaufs eine Jazz-Disco zum Tanzen eingeführt“, sagt Angelika Schmidt fast schon entschuldigend. Will man ein bißchen auch mitschwimmen am Rande des Mainstreams? „Dazu haben wir im Moment noch viel zu viele Probleme“, winkt Angelika Schmidt ab; beispielsweise das der existentiellen Dunstabzugshaube: Da der Bauherr um die Kundschaft für sein eigenes Restaurant im Vordergebäude fürchtet, weigert er sich, die vorgeschriebene Entlüftungsanlage für die Tonne-Küche zu installieren. Ohne diese Anlage gibt es aber keine warme Küche, und ohne entsprechende Speisen kommt die Tonne nicht über die Runden. „Zur Zeit studieren wir also fleißig Dunstabzugshauben und Kochrezepte.“
Vom Auftrag zur Förderung
Auch fehlen noch die veranschlagten 300.000 Mark für Umzug und Neueinrichtung. Finanz- und Kultusministerium schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Mußte die Tonne einst „den sozialistischen Kulturauftrag“ nachweisen, soll sie nun ihre „kulturpolitische Bedeutung“ belegen. Da jeder Kultusministerielle inzwischen gelernt hat, daß Kultur sich nach öffentlicher Förderung bemißt, hat die Tonne bei bescheidenen 1,39 Mark pro Klappstuhl gegenüber den weich auf Sitzpolster gebetteten 145 Mark der Staatsoper wenig Chancen, ins Subventionsbewußtsein zu gelangen.
Insofern hat der Jazz mit seinem Medium eines gemein: Man weiß vorab nicht, wie's hinterher ausgeht. Es muß halt improvisiert werden. Und das ist in einer immer mehr zur risikolosen Verwaltung neigenden Kulturlandschaft schon fast wieder schön.
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