UN-Generalsekretärin Brundtland?

■ Norwegens Ministerpräsidentin tritt überraschend zurück – Spekulationen über Nachfolge Butros Ghalis

Oslo (taz) – Die Epoche der sozialdemokratischen „Landesmutter Brundtland“ geht in Norwegen schneller als erwartet zu Ende. Gestern erklärte die 57jährige im Parlament – auch für die eigene Partei völlig überraschend, die eigene Regierung war nur Minuten vorher informiert worden – ihren Rücktritt und den ihrer Regierung für den morgigen Freitag.

Formale Begründung: Sie wolle die Nachfolgefrage rechtzeitig vor den nächsten Parlamentswahlen klären. Spekuliert wird aber, ob die seit längerer Zeit als mögliche Nachfolgerin von UNO-Generalsekretär Butros Butros Ghali gehandelte norwegische Ministerpräsidentin diesem Posten etwa schon näher ist als bislang eingeschätzt.

Es war schon lange offen darüber spekuliert worden, daß Gro Harlem Brundtland spätestens im Laufe des kommenden Jahres den Posten an der Regierungsspitze zugunsten ihres seit längeren feststehenden „Kronprinzen“ Thorbjörn Jagland räumen würde. Nun soll Jagland, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, schon morgen das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen. Brundtland selbst hatte nicht die Absicht, erneut für dieses Amt zu kandidieren, noch wollte ihre Partei sie haben: die Kritik gegen ihren persönlichen Stil und ihre politische Linie war in den letzten Monaten immer mehr angewachsen.

Höhepunkt dieser offenen Unzufriedenheit war ein kürzlich erschienenes Buch, in dem sie von einem führenden Genossen, dem Redakteur des Arbeiderbladet, der größten sozialdemokratischen Tageszeitung des Landes, ganz persönlich für den wachsenden Rassismus im Lande verantwortlich gemacht wurde. Wie breit die Kluft zwischen der „Landesmutter“ und ihrem Volk geworden war, hatte sich schon bei der EU-Volksabstimmung überdeutlich gezeigt, als die NorwegerInnen der EU- freundlichen Brundtland die Gefolgschaft verweigerten. Daß sie die umfassende politische Überwachung der Linken im Lande durch den mit der eigenen Partei verflochtenen Verfassungsschutz vor einigen Wochen als „unwesentliche Episode“ zu verharmlosen versuchte, wurde in ihrer Partei als weiteres Zeichen dafür gewertet, daß sie den Kontakt zur eigenen Basis und das notwendige politische Fingerspitzengefühl völlig verloren habe. Ein Verbleiben im Amt schien undenkbar.

So gewannen die Versuche, Brundtland auf einen internationalen Posten wegzuloben, deutlich an Schwung. Zwar dementierte sie gestern erneut, daß die Frage der Nachfolge Butros Butros Ghalis irgend etwas mit ihrem Rücktritt zu tun habe, hielt sich aber auffallend klar den Weg für eine Kandidatur offen. Der unerwartet frühe Rücktritt weckte in Norwegen jedenfalls Spekulationen, daß hinter den UN-Kulissen und vor allem seitens der USA schon mehr Weichen Richtung Brundtland gestellt sein könnten als bislang angenommen. Reinhard Wolff