"Die Nostalgie der Jugend ist verlogen"

■ Todd Solondz, Regisseur von "Welcome to the Dollhouse", über den Frust der Pubertät und die Echtheit des Autorenkinos

taz: Seit dem Erfolg von Larry Clarks „Kids“ gibt es zig Filme, in denen Teenager unter dem Leben und der ersten Liebe leiden. Weshalb müssen sich selbst gestandene Regisseure wie Antonioni an solchen Ängsten abarbeiten?

Todd Solondz: Ich habe keine Ahnung, wieso der Trend dahin geht. Wir haben „Welcome to the Dollhouse“ zeitgleich zu „Kids“ gedreht. Die Idee geht auf eine Sitcom namens „Wonder Years“ zurück, in der ein Junge seine Schulzeit und die Probleme zu Hause auf humorvolle Weise erlebt. Ich fand es schrecklich, daß die Kindheit dort überhaupt keine Ähnlichkeit mit meiner eigenen hatte. Im Grunde gibt es gar keinen amerikanischen Film, der sich auf realistische Weise mit dem Erwachsenwerden beschäftigt, jedenfalls nicht so wie in Europa, wo Vittorio de Sica oder François Truffaut zu diesem Thema gedreht haben.

„Kids“, MTV oder die Jeans- Werbung von Calvin Klein haben Jugend auf eine Echtheit festgelegt, die bei Ihnen ins Groteske umkippt. Wo sehen Sie als Filmemacher eine Chance im Umgang mit dieser neuen Begeisterung fürs Authentische?

Bei „Dollhouse“ wurde lange über die Altersfreigabe gestritten. Dabei zeigt er weder Sex noch Gewalt, noch Nacktheit, aber er regt viele Leute wegen der direkten Sprache und den unterschwelligen psychologischen Drohungen auf. Ich glaube, Erwachsene sind nostalgisch in bezug auf ihre Kindheit, in der sie noch nicht arbeiten mußten, keine Verantwortung hatten und ständig glücklich waren. Das ist eine Lüge, mit der man sich selbst unterdrückt.

Für Ihre Hauptfigur ist dieser Übergang eine Katastrophe. Was hat Sie an diesem Zwiespalt gereizt?

Die Art der Entfremdung, wo sich Probleme von der Schule auf die Familie übertragen und umgekehrt. Dieser Teufelskreis hört nicht auf: Dawn steht ihrem Leben zugleich im Weg und bleibt auch sonst Außenseiterin. Dabei hat mich die Opferrolle nur wenig interessiert, denn dann hätte jeder bloß Mitleid für sie empfunden. Das reicht nicht für einen Film. Mir war es wichtig, die Ambivalenz zu zeigen, die dieses Übergangsalter bestimmt. Jede Entscheidung scheint Leben und Tod zu berühren, während Erwachsene die Dinge aus der Distanz sehen. Mit elf Jahren hat man diese Übersicht nicht. Aber gerade dadurch lassen sich Aussagen über Grausamkeit machen, die nicht am unmittelbaren Impuls hängenbleiben. Die Szene mit dem ersten Kuß war auch für Heather Matarazzo, die im Film Dawn spielt, das erste Mal. Und sie hat es ertragen.

Diese Verschiebung gilt auch für die anderen Figuren: Selbst der Junge, der Dawn ständig bedroht, wirkt ansonsten völlig harmlos. Man merkt schnell, daß er gar nicht weiß, wovon er redet.

Als tough guy hätte er für den Film nichts gebracht. Statt dessen entwickelt er sich genauso zum Außenseiter wie Dawn. Es ist ihr extrem gegensätzlicher Charakter, der die beiden schließlich zusammenführt. Ursprünglich sollte der Film „Faggots and Retards“ heißen – nicht wegen des Schockeffekts, sondern weil es Schimpfwörter sind, die Kinder aufschnappen, ohne den Sinn zu verstehen. Deshalb können sie solche Wörter sagen, ohne die Häßlichkeit zu meinen, die Erwachsene damit verbinden. Der Junge benutzt Dawn gegenüber selbst ein Wort wie Vergewaltigung, weil er die Konsequenzen nicht kennt. Und Dawn sagt irgendwann: „Oh, wie konnte ich nur so eine gemeine Votze sein!“, was dann auf einmal eben nicht mehr widerwärtig klingt. Es sind Erwachsene, die Wörter mit der entsprechenden Bedeutung aufladen. Darin liegt eine Ironie, die mich ungeheuer bewegt.

Das geht so weit, daß in der Zuspitzung jeder Tabubruch erlaubt ist: Wieso müssen sich die Kinder als „Schwule“ und „Lesben“ beschimpfen?

Weil es eben noch nicht abwertend gemeint ist. Sie benutzen Begriffe mit genau der Ambivalenz, die Erwachsene ausschließen. Mit einer bewußten Ablehnung irgendeiner Art von Sexualität hat das meiner Meinung nach nichts zu tun. Es geht nicht um Sex, nur um die Hilflosigkeit, mit der sich Verzweiflung ausdrücken läßt.

Das klingt nach Aufarbeitung der eigenen verlorenen Jugend: Entspricht Ihr Film am Ende nicht doch dem Mythos von einem Independent-Kino, das noch ehrliche Geschichten erzählen kann?

Aber das wäre wieder nur eine Konstruktion: Erst Generation X, dann Clark, und nun geht man eben bis in die Kindheit zurück. Natürlich war meine eigene Jugend miserabel, und natürlich gibt es so etwas wie Zeitgeist in Amerika, der sich ebenso stark auf meinen Film ausgewirkt hat. Ich freue mich, wenn Leute den Film trotzdem loben, weil er ihnen als sehr authentisch erscheint. Ich hoffe nur, daß es mir mit einem Western ähnlich ergangen wäre.

Independent heißt jedoch in erster Linie Kompromisse machen zu müssen. Man muß mit der Arbeit aufhören, weil das Wetter schlecht ist oder weil eine Mutter sagt: Es ist mir egal, ob hier ein Film gedreht wird oder nicht – meine Tochter ist gefälligst in 15 Minuten zu Hause. Interview: Harald Fricke