: Ich will reisen! Ich will reisen!
Harald will nichts Besonderes. Er möchte Zugfahren, das Reisefieber treibt ihn. Wie er es in alten Büchern gelesen hat. Die gewohnte Umgebung verlassen, sich in unbekannte Fernen wagen, irgendwohin ... Nein – nicht irgendwohin. Doch damit begeht er ein Verbrechen. Eine Science- fiction-Geschichte von Herbert W. Franke.
Nun hatten sie ihn doch erwischt. Aber er hatte sich diese Reise so sehr gewünscht. „Wenn Sie offen Auskunft geben“, mahnte der Beamte, „können Sie mit einer milderen Strafe rechnen. Sie haben nicht weniger als drei Kontrollen durchbrochen – so reden Sie schon!“
Harald hatte sich zwei Stunden in der Nähe der Sperre aufgehalten. Er beobachtete, wie die Reisenden ihre Chipkarten in den Schlitz steckten und dann passieren durften. Gegen Abend nahm der Andrang ab und es bereitete ihm keine Mühe, in einem unbeachteten Augenblick unter dem Drehkreuz hindurchzukriechen.
Aber von welchem Gleis fuhr sein Zug? Die legalen Reisenden bekamen alle erforderlichen Informationen – die Abfahrtzeiten und die Bahnsteignummern. Doch Harald war kein legaler Reisender. Was er tat, war verboten, die Benutzung der Bahn nur mit Sondergenehmigung möglich. Schließlich folgte er einer Gruppe ausländischer Besucher, die ihr Ziel auf Ansteckkarten vermerkt trugen, und gelangte zum richtigen Zug.
„Spätestens beim Betreten des Wagens hätte man Sie aufgreifen müssen“, sagte der Beamte, und es war ihm anzumerken, daß er den Glauben an die Unfehlbarkeit des Systems nicht aufgeben wollte. Dieses System beruhte auf einem umfassenden Datennetz, durch das jede Aktion der Bürger organisiert und betreut wurde. Es sollte allen größtmögliche Freizügigkeit sichern – lediglich die Energieersparnis und der Schutz der Natur hatten Priorität. Und darum bestand ein generelles Reiseverbot, wenn auch mit Ausnahmen.
Auch an den Wagentüren mußte man die Chipkarten einstecken. Dann glitt die Schiebetür zur Seite, bis der Bahnbenutzer im Inneren verschwunden war. Die Automatik registrierte das durch die Entlastung der obersten Stufe, was Harald als schwache Stelle des Systems erkannt hatte. Er drängte sich hinter einen fülligen Mann und setzte seinen Fuß schon auf die Stufe, ehe dieser endgültig eingestiegen war. Die Tür blieb offen, und er war im Inneren. Zum ersten Mal in seinem Leben.
Jetzt spürte er so etwas wie Reisefieber, wie er es in alten Büchern gelesen hatte. Die gewohnte Umgebung verlassen, sich in unbekannte Fernen wagen, irgendwohin ... nein – nicht irgendwohin: Er hatte ein Ziel. Da gab es diese kleine Stadt mit dem großen Dom, der Universität, den hingeduckten Häusern, den Blumen an den Fenstern. Er hatte sich die Bilder oft genug von der Datenbank abgerufen, und er war ihrem Reiz erlegen. Seine Mutter stammte aus dieser Stadt, und er selbst war dort geboren – so stand es im Datensatz seiner Geburtsurkunde. Er konnte sich nicht mehr an diese ersten Lebensjahre erinnern, doch schon immer hatte er Sehnsucht gehabt, einmal hierher zurückzukommen.
Der vernehmende Beamte sagte: „Sie sind sehr raffiniert vorgegangen. Wie haben Sie sich den Kontrollen im Zug entzogen?“ Harald hatte befürchtet, daß ihm das Fehlen einer Platzkarte Schwierigkeiten bereiten könnte, doch offenbar waren viele Plätze überbucht, und die Reisenden stritten sich herum. Und dann gab es ein sanftes Rucken – der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Durch die getönten Fensterscheiben waren vorbeigleitende Lichter zu sehen, ein rascher Wechsel von Dunkel zu Hell, Hinterwände von Häusern, Tunnelstrecken, eine Welt in Schwarz und Grau.
In der Toilette legte Harald Jacke und Hose ab, darunter trug er einen blauen Overall. Aus der Jackentasche holte er einen Plastiksack, in den er die abgelegten Kleider steckte. Auf den Gängen fand er genug Dosen, Wegwerfbestecke und zerknüllte Zeitungen, um den Sack zu füllen. Niemandem fiel die Reinigungskraft auf.
Jetzt begann Harald sogar, die Fahrt ein bißchen zu genießen. Immer wieder blickte er aus dem Fenster, er erwartete lange Strecken von Wiesen, Feldern und Wäldern; doch die Szenerie blieb immer gleich – Betonwände, Kläranlagen und die künstliche Nacht der endlos langen Tunnel.
Daß man Harald schließlich doch gefaßt hatte, war einem Zufall zu verdanken. Irgendwo im Labyrinth des Bahnnetzes hatte es einen Bombenanschlag gegeben, und die Verkehrspolizei hatte alle Chipkarten überprüft.
Der Verhörbeamte tippte einige letzte Daten ins Protokoll. „Jetzt sagen Sie mir doch, warum Sie unbedingt reisen wollten. Sie können doch heute alles in Lebensgröße über die Bildwand abrufen.“ Harald versuchte, ihm seinen Wunsch zu erklären. „Da hatten Sie ja Glück“, sagte der Mann und deutete zum Fenster. „Haben Sie es nicht bemerkt? Sie sind an Ihrem Ziel angekommen. Wir sind im Zentrum Ihrer Geburtsstadt.“
Harald trat ans Fenster und blickte hinaus: Hochhäuser, tiefe Straßenschluchten, die Brüstungen der Fußgängerwege, die Stahlgerüste der Hochbahnen. Harald stand unbewegt, bis ihn zwei Uniformierte abholten. Mit dem nächsten Zug würde er die Rückreise antreten, legal – mit einer Sondergenehmigung des Ministeriums.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen