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Die Halbzeit der Republik

■ "Köln 1970/1995". Ein Bildband auf den Spuren des Fotografen Chargesheimer

Der Kölner Fotograf Wolfgang Vollmer hat ein erstaunliches Buch gemacht. Er hat, 25 Jahre nach dessen Erscheinen, den Band „Köln 5Uhr30“ des Kölner Fotografen Chargesheimer nachfotografiert.

Ein Freund lieh ihm die gleiche extreme Weitwinkelkamera seines Vorgängers mit dem ungewöhnlichen Format 6x9,5 Zentimeter, und Vollmer stellte sich zur besagten Zeit (plus eine Stunde, wegen der zwischenzeitlich eingeführten Sommerzeit) an eben dieselben Orte, an denen 1970 Chargesheimer seine erschreckenden Fotografien der Kölner Innenstadt aufnahm, um aus annähernd gleicher Perspektive die Veränderungen oder auch Nichtveränderungen zu fotografieren.

1970, Halbzeit der Bundesrepublik. Den Krieg hatte man so recht und schlecht überlebt. Chargesheimer bebilderte in den fünfziger Jahren die Mischung aus Euphorie und Depression des Überlebens wie kein anderer, aus rheinischer Perspektive mit ungebrochen lebensvollen, expressiven Fotozyklen. Seine Bücher „Cologne intime“ (1957), „Unter Krahnenbäumen“ (1958), „Menschen am Rhein“ (1960) wurden Fotogeschichte. Der Wiederaufbau, wir wissen es , zerstörte weit mehr als der Krieg, zunächst der Not gehorchend, gewiß, dann auch unter vermeintlichen Sachzwängen, dem ökonomischen Kalkül folgend, gewiß, gewiß, aber eben doch aus freien Stücken. Und das Ergebnis ist allerorts und in Köln sicherlich zugespitzt das, was Alexander Mitscherlich ein paar Jahre zuvor die Unwirtlichkeit unserer Städte nannte. Hiervon sah Chargesheimer offenbar keine Erholung, die Einschnitte waren zu tief.

Von der Unwirtlichkeit der Städte

Es war nicht nur ihr architektonischer Bestand, auch der soziale Umbau der Stadt deprimierte ihn zunehmend. „Köln 5Uhr30“ ist ohne Menschen und ohne Nähe, düster, abweisend, lebensfeindlich. Seine Stadtbilder betrafen den Fotografen existentiell. Es sollte Chargesheimers 14. und letztes Buch sein, in der Rückschau ein doppelt erschütterndes Dokument: Keine zwei Jahre später, gerade 47jährig, schied er freiwillig aus dem Leben (was der vorliegende Band verschweigt).

Inzwischen ist Köln eine Kunst- und Medienstadt unserer Informations- und Freizeitgesellschaft geworden mit Straßencafés, Boutiquen und internationalen Feinkostgeschäften. Und während Vollmer sich daran gibt, Chargesheimers karge Köln-Bilder nachzufotogafieren, ist er zwar in vergleichbarem Alter, zeugt jedoch gerade sein zweites Kind.

Das Verblüffende nun ist, daß die Bilder (im Buch als Doppelseiten gegenübergestellt) sich in ihrer Wirkung kaum unterscheiden. Nicht, wie es Reinhold Mißelbeck in einem der Vorworte meint, „daß sich nichts oder nur wenig verändert“ hätte (S. 13). Wo man in die meisten Bilder von Chargesheimer noch hineingezogen wird, verstellen heute neue, altmodische Poller den Zugang, alt erscheinende Neubauten den Horizont. Konzentriert man den Blick auf die gegenständlichen Details der Bilder, fällt eine zunehmende Fülle ins Auge. Dort, wo vor 25 Jahren noch Freiflächen, freie Straßen, auch freier Himmel waren, die der Phantasie Raum geben, stoßen wir heute auf lückenfüllende Bebauung, Mülltonnen, und -container, Graffiti, noch mehr Werbeflächen, auf Parkscheinautomaten, Rampen und Absperrungen.

Wie Vollmer zu Recht bemerkt: „Die Möblierung der Straße ist als Überreizung in unsere Welt getreten anstelle einer rein autoorientierten Verkehrsplanung“ (S. 94). Die Kriegsschäden sind weiter zurückgetreten, wen wundert's? Die Verkehrsführungen wurden dezenter, die Fassaden glatter oder neumodischer oder verkünstelt. Nur, es scheint alles nichts genutzt zu haben. Die Bildwirkung der städtischen Kargheit ist geblieben. Bäume wurden gepflanzt oder sind 25 Jahre gewachsen, ihre Äste zergliedern den Himmel, doch im harten Schwarzweißkontrast und bei der forcierten Schwärzung des Drucks mindert das Mehr an Naturentfaltung nicht die Ödnis der Szenerie.

Man kann eigentlich nicht behaupten, die Kölner Innenstadt sei leer; es ist die spröde, durchgehend hochkant eingesetzte Weitwinkeltechnik, die Distanzen schafft, den vergleichbaren Baubestand in den Mittelgrund drängt, das untere Bilddrittel, manchmal gar die untere Hälfte, dagegen zur Leerfläche degradiert – damals wie heute.

Kurzum: Gerade die Wiederholungen von Standpunkt und Perspektive verdeutlichen, daß es in erster Linie fotografische Effekte sind, wodurch die Bilder so ähnlich, auch so ähnlich polemisch werden und zugleich die Stadt so grottenbeständig häßlich erscheinen lassen.

Sicherlich wäre es der falsche Schluß, die öffentliche und private Stadtgestaltung hiermit freisprechen zu wollen; zum Jubeln geben sie wahrlich keinen Anlaß. Nichtsdestoweniger entpuppt sich Vollmers Untersuchung als eine eher foto- denn stadtanalytische Arbeit. In ihrer Übernahme sämtlicher Aufnahmemodalitäten unterstreicht sie das historische Gewicht Chargesheimers, bleibt damit aber als aktueller Beweis im historischen Prozeß merkwürdig selbstlos. Reinhard Matz

„Köln 1970/1995“. Fotografien von Chargesheimer und Wolfgang Vollmer. Herausgegeben von Reinhold Mißelbeck und Wolfgang Vollmer, mit Texten von L. Fritz Gruber, Reinhold Mißelbeck und Werner Strodthoff sowie einem (fiktiven) Interview mit Wolfgang Vollmer.J.P. Bachem Verlag, Köln 1996, 96 Seiten, 74 Bildtafeln, 29,90 DM

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