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Vom Neandertal zum Popcorn

Die Ausstellung „Vier Millionen Jahre Mensch“ präsentiert sich als wissenschaftlich betreute Erlebniswelt  ■ Von Ulrike Winkelmann

Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Warum haben alle Neandertaler einen Mittelscheitel? Wie sich das für wirklich gute Ausstellungen gehört, verläßt man auch das „Schauspiel zur Menschheits-Geschichte“ namens „4 Millionen Jahre Mensch“ mit mehr Fragen als Antworten.

Im Halbdämmer eingebettet sind im Chilehaus lebensgroße Szenerien aus der Frühgeschichte der Menschheit nachgestellt. „Computeranimiert“, wispert der Ausstellungskatalog, und tatsächlich wackeln die Figuren mit den Köpfen, und das Mädchen im Ronja-Räubertochter-Look fängt vokal- und umlautreich auf Alt-Dänisch an zu reden, weil es von einer Hyäne angekläfft wird.

Während der Homo erectus seinen tot umgefallenen Kollegen einfach im Savannengras liegen läßt, trauern NeandertalerInnen summend um einen der ihren, dem sie ein flaches Grab ausgehoben haben, und ein Cro Magnon Mensch malt Kühe an Höhlenwände. Und welche Hobby-Paläoanthropologin hätte sie nicht schon ins Herz geschlossen: allen voran „Lucy“, die vor drei Millionen Jahren in Äthiopien lebte, aber auch der symphatische „Turkana-Junge“, der vermutlich wegen einer Entzündung unter seinem Milchzahn nur elf Jahre alt geworden ist. Er stand – recht hochgewachsen übrigens – vor 1,6 Millionen Jahren am Ufer des Turkana-Sees in Nordkenia.

Fern von europäischer musealer Vitrinen-Verstaubtheit versucht die Ausstellung, sich ans US-amerikanische Konzept der wissenschaftlich betreuten Erlebniswelt anzunähern: Alle großen und kleinen Kinder dürfen an Leuchtkästen per Knopfdruck beantworten, ob unsere Nase a) zum Brilletragen oder b) zur Befeuchtung der Atemluft dient; wir dürfen unsere Finger in Lucys zierliches Händchen oder in eine faltige Gorilla-Pranke legen; nur das Laufband, das auf dem Bildschirm gegenüber den Film mit der Entwicklung des aufrechten Gangs animieren soll, funktioniert leider nicht.

Auf der letzten Bühne sitzen unsere Schwiegereltern mit Fernbedienung vorm Fernseher, komplett mit Jogginganzug, Popcorn und Diet-Coke, sie sind natürlich bewegungslos verfettet, und ihre bleichen Hängebacken sind kein Stück sympathischer als die Augenbrauenwülste des Homo rudolfensis. In Kombination mit der im Hintergrund laufenden Weltbevölkerungsuhr, deren Ziffern sich der sechsten Milliarde nähern, wird hier die Botschaft aufs Auge gedrückt, die der Humanbiologie offenbar eingeschrieben ist: „Wir“ sind erstens degeneriert und zweitens zu viele, und deshalb müssen wir Leistungssport treiben und den Rest der Weltbevölkerung davon abhalten, Kinder zu kriegen.

Dabei ist doch angeblich bewiesen, daß schon Australopethecus sowohl Karies als auch Parodontose hatte, und der lebte immerhin vor drei Millionen Jahren.

Bis 25. Mai 97, täglich 10 bis 18 Uhr, Chilehaus, Eingang A.

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