: Vergiftet, aber gesund
Medizin-Studie zur Bille-Siedlung: Chemie-Cocktail hat die BewohnerInnen nicht krank gemacht / Widersprüche bei Krebs-Studie ■ Von Marco Carini
Das Leben auf dem chemiebelasteten Boden in der Bille-Siedlung hat die BewohnerInnen zwar körperlich beeinträchtigt. So richtig krank sind sie aber nicht geworden. Das ist das Ergebnis einer von der Hamburger Gesundheitsbehörde in Auftrag gegebenen umweltmedizinischen Untersuchung, die gestern vorgestellt wurde.
Für Michael Schümann, behördlicher Koordinator der Studie, verkünden die Ergebnisse eine „Doppelbotschaft“: Zahlreiche Körperwerte der über 600 untersuchten (Ex-)SiedlerInnen seien durch die Schadstoffe verändert worden, ohne daß jedoch eine Zunahme umweltbedingter Krankheiten nachweisbar sei. Schümann: „Wir haben nochmal Glück gehabt.“ Ob es zu einer Erhöhung der Krebsrate gekommen ist, müsse allerdings eine Nachfolgestudie erst noch klären: Hier liefern die Zahlen kein eindeutiges Ergebnis.
Nach Durchsicht der Totenscheine kamen die ForscherInnen zu dem Resultat, daß zwischen 1968 und 1990 deutlich weniger Bille-SiedlerInnen an Krebs starben als im Hamburger Durchschnitt. Anders sieht es allerdings bei den 40- bis 70jährigen Frauen aus: Weit häufiger als zu erwarten sind hier bösartige Tumore die Todesursache.
Um zu klären, ob es sich dabei um einen statistischen Ausreißer handelt, fordert die „Betroffenenvertretung“ der SiedlerInnen eine Nachfolgestudie. Denn sie sind durch eine Verwandten-Befragung von 1990 zu einem anderen Resultat als die amtliche Gesundheitsuntersuchung gekommen: Danach seien mehr als die Hälfte der Verstorbenen durch Krebserkrankungen ums Leben gekommen.
Während die Schadstoffbelastung des Organismus bei den Bille-SiedlerInnen im Schnitt nicht höher ist als in anderen Hamburger Gebieten, fanden sich im Körper der Personen, die besonders lange auf dem mit Arsen, Schwermetallen und Dioxinen verseuchten Erd-reich gelebt haben, deutlich höhere Konzentrationen dieser Gifte.
Besonders betroffen sind SiedlerInnen, die jahrelang Geflügel und Eier aus eigener Bodenhaltung zu sich genommen haben. Sie haben doppelt so hohe Dioxin- und Furankonzentrationen in ihrem Blut wie der Hamburger Durchschnitt. Bei Kindern und Jugendlichen fanden die an der Studie beteiligten ForscherInnen in Einzelfällen erhöhte Konzentrationen von Arsen und Schwermetallen im Blut. Als Folge der erhöhten Schadstoffannahme stellte das an der Untersuchung beteiligte Nordig-Institut „Befindlichkeitsstörungen“ bei den besonders belasteten Personengruppen fest. Einige SiedlerInnen klagten über Konzentrationsschwächen und Schleimhautrötungen.
Die Bodengifte wirkten als chemisches Verhütungsmittel: Viele Bille-SiedlerInnen mußten überdurchschnittlich lange auf eine gewollte Schwangerschaft warten. Merkwürdig und noch ungeklärt ist zudem, warum in dem Gebiet wesentlich mehr Jungen als Mädchen zur Welt kamen.
Auffällige Veränderungen fanden sich bei den Leber- und Nierenwerten der SiedlerInnen, auch im Blut-Farbstoffwechsel kommt es zu Störungen. Die GutachterInnen sehen hierin allerdings nur eine „Reaktion des Körpers“ auf die erhöhte Schadstoffbelastung, die aber nicht zu Krankheiten führe.
In der Bille-Siedlung im Osten Hamburgs wurden seit Juni 1993 rund 100 mit Arsen, Schwermetallen und Dioxin verseuchte Grundstücke für rund 34 Millionen Mark saniert. Auf dem nicht mehr für Wohnzwecke nutzbaren Teil der alten Bille-Siedlung wird ein Golfplatz entstehen. Zum Schutz der Häuser wurden außerdem zwei in die Erde eingelassene Wände von rund 800 Meter Länge gebaut, die eine Gaswanderung aus dem nicht sanierbaren Teil der Siedlung verhindern sollen.
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