: Geheimwahl mit Discount-Begräbnis Von Ralf Sotscheck
Stell dir vor, es gibt einen Volksentscheid, und niemand geht hin. Das irische Referendum über die Abschaffung des Rechts von Angeklagten, bis zur Verhandlung in Freiheit zu bleiben, lockte kaum jemanden hinter dem Ofen hervor – schon gar nicht auf den Inseln vor der Westküste. Während überall am Donnerstag abgestimmt wurde, mußten die Inselbewohner schon drei Tage früher an die Urne. Schließlich müssen die Zettel zur Auszählung nach Galway auf das Festland gerudert werden, was bei dem Novembersauwetter eine Weile dauern kann.
Leider hatten die Behörden einen Fehler gemacht: Auf den Wahlbenachrichtigungen war der Donnerstag als Wahltag angegeben, so daß die Wahlbeamten vergeblich auf ihr Stimmvieh warteten. Der Inselpfaffe Dara Molloy auf Inismore erfuhr erst aus den Neun-Uhr-Nachrichten, daß seine Schäfchen am Montag wählen sollten. Er rannte sogleich zum Wahllokal, doch es war zu spät: Der Laden hatte gerade dichtgemacht. Der Wahlbeamte meinte, der Pfarrer sei nicht recht bei Trost: Das Wahlbüro sei ab neun Uhr morgens zwölf Stunden lang geöffnet gewesen, doch Molloy wollte seine Stimme ausgerechnet fünf Minuten nach Feierabend abgeben.
Der geistliche Protest wirkte jedoch. Die Regierung ließ die Inselbewohner am Donnerstag noch einmal wählen. Doch das ging schon wieder schief, weil man die Betroffenen abermals nicht richtig informiert hatte. Auf Inisbofin stimmten gerade mal drei Leute ab – allesamt mit Nein, was der Insel einen einmaligen Status verlieh: Während landesweit drei Viertel für die Verfassungsänderung stimmten, war Inisbofin hundert Prozent dagegen. Im Rest des Landes war die Wahlbeteiligung freilich kaum besser.
Die St.-Vincent-Grundschule in Dublin, wo ich wählen mußte, war von außen stockdunkel. Lediglich ein frierender junger Mann stand mit einem Stapel Flugblätter vor der Tür. Ich fragte: „Für oder gegen das Referendum?“ Er drückte mir einen Zettel in die Hand und antwortete mit dezent gedämpfter Stimme: „Fünfzig Pfund Nachlaß auf Ihre nächste Beerdigung, Sir.“ Hielt er mich für einen Untoten? „Es muß ja nicht Ihr eigenes Begräbnis sein, Sir“, versicherte er, „es kann sich auch um einen Angehörigen handeln.“ Das hört man gern.
Irgendwie paßte der morbide junge Mann zum Volksentscheid- Nichtereignis, auch wenn der Verband der Bestattungsunternehmer die Discount-Beerdigungen am nächsten Tag rügte. Im Klassenzimmer, das zum Wahllokal umfunktioniert war, saßen vier Wahlbeamte gelangweilt vor vier Elektroheizspiralen aus der DDR, die in Irland zur Zeit überall verkauft werden. Als ich den Raum betrat, kam etwas Bewegung in die Gruppe. „Anfangsbuchstabe?“ fragte einer. „S“, sagte ich, und drei Beamte sanken wieder auf ihre Stühle. Die vierte winkte mich herüber und fragte nach meinem Wahlschein. Den hatte ich vergessen, ebenso wie meinen Paß. Da sie einen der wenigen Wahlwilligen nicht tatenlos nach Hause schicken wollte, fragte sie: „Können sie wenigstens ihren Namen buchstabieren?“ Das gelang mir fast mühelos, und so erhielt ich den Stimmzettel. Ein Wahlbetrüger, so dachte sie vermutlich, hätte sich einen einfacheren Namen ausgesucht. Murphy vielleicht.
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